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Die Höflichkeit des Arguments

Ausgabe 304

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(iz). In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die sogenannte Gesprächskultur in muslimischen Gemeinschaften insbesondere im Westen substanziell geändert – ob zum Besseren oder Schlechteren sei dahingestellt. Heute nehmen – durch das Internet und (a)soziale Medien verstärkten und entgrenzten Diskussionen – einen weitaus größeren Stellenwert ein, als es in vordigitalen Zeiten der Fall war.

Dabei müssen viele TeilnehmerInnen die leidvolle Erfahrung machen, dass die tradierte Fähigkeit zur Toleranz und Ambiguität oft abhandengekommen ist. „Alle Muslime, die vorhaben, sich auf ein Gespräch einzulassen, sollten dieses immer wieder anhören, bis seine Bedeutung verinnerlicht ist und sie verstehen, dass das Geheimnis des Sprechens, das Verlangen nach Wissen und nicht das Verlangen nach Eroberung ist“, schreibt der US-amerikanische Gelehrte Schaikh Hamza Yusuf. Nur wenn wir unser Ego überwinden würden und den Wunsch hätten, einen echten Dialog mit anderen zu führen, erreichten wir einen spirituellen Status, den die Engländer als „Gentlemen“ und die Araber als Al-Adib (den Sanften) bezeichnet hätten.

An einer Stelle im Qur’an sagt Allah, der Erhabene: „(…) und sie sind sich andauernd über Streitfragen uneins mit Ausnahme jener, denen Allah Gnade erwiesen hat (…).“ Und in einer Aussage vom Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, heißt es: „Die Meinungsverschiedenheiten meiner Gemeinschaft sind eine Barmherzigkeit.“ Die entscheidende Frage, die sich viele Muslime heute stellen, lautet: Wie bleiben die Herzen zusammen, wenn die Meinungen auseinandergehen? Allah hat uns befohlen, am Seil Allahs festzuhalten und uns nicht in Sekten auf­spalten zu lassen. Ein Scheitern, beide Punkte zu verbinden, führt zu der heutigen Krise der gegenseitigen Anerkennung. Nach Ansicht von Yusuf manifestiert sie sich im Recht, in der Glaubenslehre sowie in ­anderen Dinge.

Vielfalt und Unterschiede können ein Anlass für Schönheit sein. Problematisch wird es für Muslime, wenn diese zur Quelle für Streit, Ressentiment und Ärger gegenüber dem ­Anderen werden.

Der bekannte Kalif ‘Umar ibn ‘Abdul-’Aziz sagte: „Ich bin froh, dass die Gefährten des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sich nicht auf alles einigten.“ Die Bedeutung dessen ist, dass Meinungsunterschiede die Sache breiter machen, sodass die Leute mehr Flexibilität haben. Wenn es eine Übereinkunft (arab. idschma’) gibt, dann sind alle gezwungen, dieser Position zu folgen. Als einer der frühen ‘abbasidischen Kalifen Imam Maliks „Muwatta’“ zum verpflichtenden Rechtsbuch zu machen gedachte, lehnte dieser ab. Obwohl er das Wissen und die Methode Medinas für überlegen hielt, lehnte der Imam das Anerbieten aus Bescheidenheit und dem Wissen über die regionalen Unterschiede in der Gemeinschaft ab.

Ein anderes wichtiges Beispiel für die Verschiedenheit der Ansichten (arab. ikhtilaf) in unserer Gemeinschaft sind die Unterschiede in den Rezitationsweisen des Qur’an (arab. qira’at). Es gibt Beispiele von ‘Umar ibn Al-Khattab und Ubai ibn Ka’ab, die sich über abweichende Rezitationen anderer ärgerten. Als beide dies dem Gesandten Allahs vorbrachten, bestätigte Rasul die Korrektheit der jeweils beiden Versionen.

Das Wissen um die Ikhtilaf dient einer friedlichen Koexistenz. Imam Al Makhani sagte darüber: „Lernt die Unterschiede der ‘Ulama kennen und lasst dadurch eure Brust erweitern. Denn wenn ihr die Meinungsverschiedenheiten und die Tatsache kennt, dass sich das Ulema in so vielen Dingen unterschieden, könnt ihr mit einer weiteren Sicht auf die Dinge schauen und diese Dinge großzügiger betrachten.“ Viele Muslime vergessen heute in einer scheinbar gleichgeschalteten, globalisierten Welt, dass Meinungsunterschiede auch die Folge unterschiedlicher Lebensbedingungen und Verhältnisse sind.

Als Imam ‘Ali (Schwiegersohn des Propheten und vierter Kalif des Propheten) Ibn ‘Abbas (Cousin des Propheten) zu den rebellischen Khawaridsch entsandte, sagte er ihm: „Wenn sie mit dir diskutieren, dann debattiere mit ihnen unter Gebrauch der Sunna, denn der Qur’an ist offen für viele Interpretationen.“ Die Sunna hingegen ist wesentlich spezifischer, denn ihre Aufgabe ist auch, Qur’an zu erklären.

Es ist eine wesentliche Tugend unserer Religion, die Meinungen anderer anzuerkennen. Während seiner ersten Freitagsansprache (arab. khutba) in Medina sagte der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Liebt einander im Geist Allahs. Liebt einander in der Barmherzigkeit Allahs.“ Wir müssen das manifestieren und unsere Herzen für unsere Brüder und Schwestern in der Gemeinschaft öffnen. Diejenigen, die kommen, um Streit unter den Muslimen zu entfachen, gehören nach Ansicht von Schaikh Hamza Yusuf zwei Kategorien an: Es handelt sich um jemanden, der von Natur sehr engstirnig ist, sodass er nur ein psychologisches Problem hat. Oder jemand hat eine schlechte Absicht. Und versucht, Streit unter Muslimen auszulösen. Uneinigkeit ermächtigt einige, die persönliche Vorteile von ihr erhoffen. „Solch ein Verhalten ergibt sich aus diesen beiden Gründen. In beiden soll man sie ­zurückweisen“, schreibt Yusuf.

Idealerweise sind die Muslime wie ein Körper, wie die Steine einer Mauer. Jeder stützt den anderen. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wies uns ans, nicht die Kontakte zum ­Anderen abzubrechen, nicht miteinander zu kämpfen und den Anderen nicht aus kommerziellen Gründen zu übervorteilen. Er sagte auch, wir sollten einander lieben, denn der Andere hat ebenso Anteil an der Menschlichkeit. Wir müssen für die anderen dasjenige wünschen, was wir für uns selber wollen. „Wenn ihr rausgeht und andere Menschen seht, dann müsst ihr sie mit Mitgefühl ­betrachten und sie mit dem Auge der Menschlichkeit sehen, anstatt mit einer Art Verachtung oder Hass“, schrieb Schaikh Hamza Yusuf.