Die islamische Welt denkt den (Ab-)Grund der Finanztechnik neu

Ausgabe 216

„In der muslimischen Welt fällt der Siegeszug der Banken mit dem Untergang des islamischen Nomos zusammen. Das Osmanische Reich zerfiel auch unter dem Druck der ausländischen Banken und einer hoffnungslosen Staatsverschuldung. (…) Die neue Technik sollte ‘islamisiert‘ werden, um dann dem eigenen Machtwillen dienlich zu sein. Die Gefahr der Neutralisierung eigener religiöser Überzeugungen durch die Technik selbst wurde dagegen noch kaum gesehen. (…) Aber in den letzten Jahren wuchsen die Zweifel. Nicht nur an den diversen Tricks der Banken, das qur’anische Zinsverbot zu umgehen, sondern am Fundament der Banken selbst.“

(iz). In seinem neusten Buch von Gabor Steingart gibt es ein interessantes Kapitel mit der Überschrift „der Aufstieg der Banken als Ermöglicher von Politik“. Steingart beschreibt den Höhepunkt der Bankenmacht, die in den letzten 20 Jahren erreicht worden ist. Allein die Deutsche Bank, so Steingart, betreibt mit einem Geschäftsvolumen von zwei Billionen Euro (2010) Geldgeschäf­te in Höhe der Wirtschaftskraft der größten Volkswirtschaft Europas, sei also längst ein „Staat im Staate” geworden und Ausdruck einer neuen „Partnerschaft“ zwischen Politik und Banken. Die Passage erinnert an die berühmte Geburtstagsfeier mit dem Ex-Chef der Deutschen Bank, Ackermann, im Bundeskanzleramt und an die ­anschließende Debatte mit der Bundeskanzlerin, wer damals eigentlich wen eingeladen habe.

Die Macht der Banken, die mit ­ihrem Vermögen „Geld aus dem Nichts“ zu schaffen über einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Realwirtschaft verfügen, wird neuerdings kritisch hinterfragt. Jahrzehntelang fielen den meisten Deutschen nur die neuen Bankgebäude auf, die – Sakralbauten ähnlich – unsere Innenstädte beherrschten. Aber nur wenige Deutsche verstanden den „New Deal“ zwischen Regierung und Banken, ­welcher der Politik auch dazu verhalf, das Staatseinkommen zu erhöhen und mit Krediten Sozialleistungen zu vergeben und Megaprojekte zum Wohle des Volkes, Pardon Wählerschaft, durchzuführen.

Die Debatte über das Verhältnis von Politik und Banken beginnt in Deutschland bereits mit der Regentschaft Bismarcks, dessen ungeheurer Machtgewinn nicht unerheblich durch sein ­Verhältnis zu dem jüdischen Bankier Bleichröder verknüpft war. Seine Bank finanzierte die entscheidenden Kriege der Preußen und gleichzeitig etablierte der Bankier einen vorteilhaften Informationsaustausch zwischen politischen und ökono­mischen Eliten. Bleichröder, übrigens zeitlebens ein deutscher Patriot, wurde im vereinten Deutschland gleichzeitig mit übelsten antisemitischen Hetzreden überzogen; dem Vorspiel zur späteren abgründigen Nazi-Propaganda gegen die angeblichen Machenschaften eines „jüdi­schen Kapitals“. Die Debatte über die heutige, strukturelle Macht des überkon­fessionell etablierten Bankings ist noch immer von historischen Altlasten geprägt.

Fakt ist: Die Macht der Bank wurde zum Politikum. Lenin beklagte die Verschmelzung des Bank- mit dem Industriekapital, die er als Bedingung für den globalen Imperialismus definierte. Bankfinanzierte Monopole dominierten zunehmend den Handel und führten die Idee freier Märkte im Grunde ad absurdum. Der Siegeszug der Technik und die Möglichkeiten neuer Technologien überhaupt, steigerten den Kapitalbedarf für Großprojekte beinahe ins ­Unermessliche. Neue Rüstungsprojekte für Kriege mussten vorfinanziert werden. Die Idee absoluter Machtsteigerung war ohne entsprechende Bankenmacht und damit die Fähigkeit, immer größere Mengen Kapital zu produzieren, illusorisch.

Erst am Ende des letzten Jahrhunderts stellte sich die Frage nach dem ­Verhältnis politischer Macht zu den Banken neu. Martin Heidegger, der Philosoph der Technik, besprach die fundamentale Frage, ob die moderne Technik nicht auf Dauer die Idee menschlicher Souveräni­tät untergrabe. Zweifel kamen auf, ob der Mensch die Technik, oder aber die Technik den Menschen in der Hand habe. Heute stellt sich – beinahe ironischerweise – gegenüber dem Treiben der globalen Finanztechnik im Westen eher das Gefühl der allgemeinen Ohnmacht ein. Der Primat der Politik ist ­endgültig in Gefahr. Folgt man diesen Gedanken, erscheinen die Politiker als Getriebene und man wird zur Meinung neigen, dass es wohl eher Ackermann war, der die Kanzlerin damals zur Feier ins Kanzleramt einlud.

In der muslimischen Welt fällt der Siegeszug der Banken mit dem Untergang des islamischen Nomos zusammen. Das Osmanische Reich zerfiel auch unter dem Druck der ausländischen Banken und einer hoffnungslosen Staatsverschuldung. Mit einiger Bitterkeit registrierte der politische Islam den schmerzlichen Machtverlust dieser Tage. Der arabische Moder­nismus sah in der neuen Technik überhaupt und im Bankwesen insbesondere den entscheidenden Entwicklungsvorsprung des Westens, den es „koste es, was es wolle“ einzuholen galt.

Die neue Technik sollte „islamisiert“ werden, um dann dem eigenen Machtwillen dienlich zu sein. Die Gefahr der Neutralisierung eigener religiöser Überzeugungen durch die Technik selbst wurde dagegen noch kaum gesehen. Die „islamische“ Bank, für Spötter so islamisch wie ein „islamischer Whisky“, wurde für Modernisten zum Leitstern modern gedachter Ökonomie, nichts anderes als der magische Schlüssel zur „Macht”.

Erst jetzt, in der wohl größten Finanz­krise der Menschheitsgeschichte, werden auch die Widersprüche im – angeblich – islamisch verfassten Bankensystem wieder deutlicher. Bisher waren es die ethischen Richtlinien, die viele Muslime an dem guten, weil islamischen Kern dieser Banken nicht zweifeln ließ. Aber in den letzten Jahren wuchsen die Zweifel. Nicht nur an den diversen Tricks der Banken, das qur’anische Zinsverbot zu umgehen, sondern am Fundament der Banken selbst: Beispielsweise dem Vermögen Geld, das heißt, Papiergeld, aus dem Nichts zu schaffen. Natürlich findet auch das „islamische“ Banking nicht auf einer Insel der Glückseligkeit statt, sondern bleibt – ob man will, oder nicht – eingebunden in die Logik der interna­tionalen Finanzstrukturen.

In diese Richtung denkt auch ein Gutachten einer Gruppe Gelehrter der Al-Azhar Universität um Muhammad Noor Deros. Für sie ist das von den Banken verwendete „Papiergeld“ haram und integrierter Bestandteil jedes modernen Bankgeschäftes. Das Geld, mit der die Bank handelt, wird damit de facto Teil einer umfassenden Riba-Ökonomie (siehe S. 11). Das Argument basiert auf der Überzeugung, wonach das Geld im ­Islam einen „innewohnenden“ Wert haben muss, von den Nutzern frei gewählt werden sollte und der Wert von Zahlungsmitteln nicht von außen erzwungen werden darf. Gold und Silber ist dabei auch aus Sicht islamischer Ökonomie das jahrhundertelang bevorzugt benutzte Maß. „Alles wird in Gold und Silber gemessen“, sagte schon Ibn Al-Qasim in seiner Mudawana Al-Kubra.

Tatsächlich gibt es schon länger eine neue Bewegung, die den „Fair Trade“-Gedanken, den man ausführlich aus dem Qur’an begründen kann, auch mit der Substanz des Geldes selbst in Bezug setzt. Nach Ansicht dieser Bewegung sind „gesetzliche Zahlungsmittel“ immer auch der Versuch, „schlechtes Geld“ anderen – im Extremfall auch anderen Völkern – aufzuzwingen. Nach islamischer Überzeugung darf aber das verwendete Zahlungsmittel grundsätzlich nicht aufgezwungen sein. Zudem sind diese Gelehr­ten der Überzeugung, dass (goldgedecktes) Papiergeld historisch nur ein unzuläs­siges „Versprechen auf spätere Zahlung“ gewesen sei und zwar zum widerrechtlichen Vorteil des Ausstellers der Währung. Heute, also ohne die 1971 aufgege­bene Golddeckung, ist es nicht einmal mehr ein konkretes Versprechen.

Diese Argumente finden jetzt gerade in ressourcenstarken muslimischen Ländern einige Anhänger. Die natürliche Frage ist ja dort, warum eigentlich ein Land unter den Bedingungen eines angeblich freien Marktes, Öl gegen Papier­geld und zudem unter den Bedingungen des geplanten Wertzerfalls durch Inflation austauschen sollte? Gleichzeitig haben einige Verschwörungstheorien Konjunktur, die behaupten, der Iran, Irak und Libyen seien auch wegen ihrer strategischen Abkehr von der globalen Leitwährung in Ungnade gefallen.

Natürlich gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder – auch aus Bankenkreisen – Ansichten, die die Verwen­dung von Papiergeld zwar als „haram“ einstuften, aber dann doch als „notwendig“ (Darura) ausnahmsweise zuließen. Damit gab es im islamischen Denken ein Zugeständnis an die angebliche Alternativlosigkeit zum Zusammenspiel von Banken und Papiergeld. Es herrschte über Jahrzehnte damit im Grunde ein Zweifel, man könnte auch sagen eine geistige Krise, ob eine echte Halal-Wirtschaft, die mehr ist als nur ­Verzehrregeln, heute wirklich noch möglich sei.

Dieses Denken in Kompromissen ist heute aber wieder höchst umstritten. Der alte Zweifel wird durch eine neue Hoffnung ersetzt. Der Verfasser des obigen „Gutachtens über Papiergeld“, Muhammad Deros, fordert nun alle Gelehrten, die bisher Papiergeld und Banken rechtfertigten, auf, ihre Position Angesicht der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte neu zu überdenken. „Die Lage ist in Wirklichkeit nicht mehr alternativ­los“, meint Deros und spielt auf die Möglichkeit der Etablierung alternativer Zahlungsmodelle und Finanzinstitutionen durch Muslime in Asien an.

Noch immer fällt es aber der Masse der Muslime schwer, an diese Alternativen zu glauben. Das liegt auch daran, dass die eigenen Terminologien und Institutionen im Finanzwesen leider in Vergessenheit geraten sind. In der Krise gewinnen diese Einrichtungen – wenn man sie näher studiert – wieder an zeitloser Brisanz. Eine der relevanten ­Institutionen Geld aufzubewahren und zu nutzen waren zum Beispiel die so genannten „Wadias”. Hier konnten Muslime Erspartes aufheben, Transaktionen ausführen, Gewinne austauschen und gemeinsame ­Investitionen – natürlich unter den Restriktionen des islamischen Wirtschaftsrechtes – ausführen. Das Verbot von Derivaten, im Islam ein kategorischer Imperativ, dürfte dabei auch dem intelligen­ten Europäer durchaus einleuchten.

Wie immer die Krise letztlich für Eu­ropa und ihre Bewohner enden wird: Die Debatte über die Banken birgt schon heute die Chance eines neuen Dialogs zwischen Christen, Juden und Muslimen, die ihr Wissen über die Vorausset­zungen einer gerechten Ökonomie wiederbeleben. Gibt es ein Gegenmodell gegen die Inflationskultur, die Europa ­heute beherrscht? Die Ablehnung gegen­über der Allmacht der Banken ist in Eu­ropa bereits eine Art Programm geworden und könnte so Grundlage einer ­neuen Sinnstiftung werden. Wie sagte Georgia Agamben so schön im Gespräch mit der FAZ: „Seit mehr als zwei Jahrhunderten konzentriert sich die Energie des Menschen auf die Ökonomie. Vieles deutet darauf hin, dass für den Homo sapiens vielleicht der Moment gekommen ist, die menschlichen Handlun­gen jenseits dieser einzigen Dimension neu zu organisieren. Das alte Europa kann gerade da einen entscheidenden Beitrag für die Zukunft leisten.“