Die IZ-Reihe über den Alltag der Muslime. Von Sulaiman Wilms

Ausgabe 201

(iz). In der letzten IZ-Ausgabe schrieben wir über ein, auf muslimische Investoren zugeschnittenes Angebot der WestLB, dessen „islamische“ Prämissen wir kritisch hinterfragten. In Folge entspann sich auf unserer Facebook-Seite eine freundliche Debatte mit einer Leserin, die wissen wollte, warum wir kritisch reagieren. Ihre Entgegnung auf unsere Argumente lautete im Kern: „Es ist doch besser, etwas Gutes zu tun, anstatt nur zu kritisieren!“

Reicht bloßes Wollen für Muslime, um in dieser Welt Erfolg zu haben, von überzeitlichen Dingen ganz zu schweigen? Wenn dem so wäre, warum hat ­Allah beispielsweise dem politischen ­Islam des 20. Jahrhunderts jeden Erfolg im Nahen und Mittleren Osten verweigert? Wieso also scheiterte man so kläglich? Es braucht einen weiteren, wesentli­chen Aspekt, ohne den das bloße ­Wollen einfach verpufft.

Im Islam ist es das Wissen, das unsere Handlungen leiten und sicherstellen soll, dass unsere Absichten und ­Aktionen mit dem übereinstimmen, was von uns in dieser und in der nächsten Welt erwar­tet wird. Schaikh Muhammad ibn Al-Habib schrieb in seiner Gedichtsammlung (Diwan): „Ergreife die Zügel des Wissens für das Reittier der Himma [spirituelles Streben, Wollen] und einen Gefährten, der verhindert, dass deine Handlungen Probleme verursachen.“

„Mehre mein Wissen“
Das Wissen, sein Stellenwert und der Aufruf zu seiner Aneignung und Vermittlung wird von Allah im Qur’an immer wieder betont. Bevor wir uns dem überhaupt zuwenden können, müssen wir verstehen, dass es als solches Vorbedingungen hat. In Al-Baqara findet sich der bekannte Schlüsselvers: „Und Ich habe die Menschen und Dschinn nur ­erschaffen, damit sie Mich anbeten.“

Die erste Bedeutung ist offenkundig, aber die Qur’ankommentatoren sehen eine weitere Bedeutungsebene: Die Voraussetzung, dass Allah überhaupt ­richtig angebetet werden kann und diese Anbe­tung (‘Ibada) angenommen werden kann, ist Wissen.

Am Ende des längsten Qur’anverses, in dem Allah über die Anwesenheit von Zeugen bei dem Abschluss von Verträgen spricht, sagt Er: „Fürchtet Allah [habt Taqwa] und Allah wird euch das Wissen geben, das ihr braucht.“ (Al-Baqara, 282)

Wissen nimmt demnach seinen Anfang nicht in der unterscheidungslosen Anhäufung von Informationen oder Einzelheiten, sondern essenziell im Herzen. In der Sura Al-Fatir (Vers 28) erklärt ­Allah uns andererseits auch, dass die Voraussetzung für echte Taqwa nur Wissen sein kann: „Nur diejenigen Seiner ­Dieser, die Wissen haben, haben Taqwa vor ­Allah. Allah ist der Allmächtige, All-Vergebende.“

Imam Malik sagte über unser Thema: „Wissen besteht nicht in der Anhäu­fung von Überliefererketten, sondern ist ein Licht, das Allah in ein Herz gibt.“ Das Wissen hat, wie andere Qualitäten auch, die uns Allah, der Erhabene, ­geborgt hat, einen Göttlichen Ursprung. Einer der 99 Namen Allahs ist Al-’Alim, der Wissende. In den folgenden Versen spricht Allah über verschiedene Aspekte des Wissens: „Allah bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Ihm; und (ebenso bezeugen) die Engel und diejenigen, die Wissen besitzen.“ (Al-i-’Imran, 18) „So erhöht auch Allah diejenigen von euch, die glauben, und diejenigen, denen das Wissen gegeben worden ist, um Rangstufen. Und Allah ist dessen, was ihr tut, kundig.“ (Al-Mudschadila, 11)

„Und sprich: Mein Herr, mehre mein Wissen.“ (Ta-Ha, 18)

Bemerkenswert an den letzten beiden Beispielen ist, dass uns Wissen, das diesen Namen verdient, von Allah kommt. Und es ist Allah, Der es in Seinen Dienern mehrt.

Eine Pflicht für alle
Unser Prophet Muhammad hat bei unzähligen Gelegenheiten den hohen Stellenwert des Wissens betont und ­seine Gemeinschaft zu seinem Erwerb angehalten. „Die Suche nach Wissen ist eine Pflicht für jeden Muslim“, was an sich schon als Ratschlag reichen sollte.

Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte auch: „Wer auf einer Straße mit dem Verlangen nach Wissen reist, den lässt Allah auf einer der Straßen des Paradieses reisen. (…) Die Überlegenheit des ­Gelehrten über den gehorsamen ist wie die des Vollmonds in einer klaren Nacht über die der Sterne. Die Gelehrten sind die Erben der Propheten. Die Propheten hinterlassen weder Dinar, noch Dirham. Sie hinterlassen nur Wissen. Derjenige, der es aufnimmt, hat ein großen Anteil ­genommen.“

Nicht nur, was er sagte, ist von Bedeutung, sondern auch sein Vorbild. Es war die Gewohnheit seiner Gefährten, sich nach dem Morgengebet in der Moschee zu treffen, um über die Bedeutung dessen zu reflektieren, was Allah ihm offenbart hatte. Alles, was der Gesandte ­Allahs tat oder unterließ, war in sich schon eine Methode der Wissensvermittlung.

Dabei vergaß der Prophet die Frauen nicht, und stellte regelmäßig sicher, dass nicht anwesende Frauen bei seinen Unterweisung von dem unterrichtet ­wurden, was er zu sagen hatte. Der prophetische Haushalt war nichts anderes als eine Schule, in der die Frauen Medinas direk­tes Wissen von den Ehefrauen des Gesandten Allahs nehmen konnten. Insbesondere ‘Aischa setzte diese ­Tradition nach seinem Tode fort. Sie gab so viel Wissen an die folgende Generation weiter, dass die Gelehrten über sie sagten: „Die Hälfte des Dins ist von ‘Aischa.“

Gefährliches Wissen
Wirkliches Wissen ist gefährlich. Es fordert von dem, der es besitzt, seine Umsetzung und seine Weitergabe. Einmal wurde ‘Abdullah ibn ‘Umar gefragt, warum er denn nicht den gesamten Qur’an auswendig beherrsche. Seine Antwort war, dass er sich Zeit lasse, solange er nicht jeden auswendig gelernten Buchstaben in die Tat umsetze.

Wissen zu theoretisieren war bei frühen Muslimen verpönt. Einst wurde ein Faqih, ein Rechtsgelehrter, gefragt, was man tun solle, wenn eine Maus in das für die Gebetswaschung vorgesehene Wasser falle. Er wollte wissen, ob dies geschehen sei. Als der Fragesteller dies verneinte, bekam er zu hören: „Komm wieder, wenn die Maus in das Wasser gefal­len ist.“Qualifiziertes Wissen, nicht nur bloße Information, ist ein hohes Gut. Daher wird verständlich, warum die großen Muslime Allah immer wieder um nützliches Wissen (‘Ilm An-Nafi’) anflehten.

Und heute?
Wissen und seine Vermittlung ist insbesondere innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland eine Zukunftsaufgabe allererster Wichtigkeit. Man könnte kritisch sagen, dass es beina­he das einzige Gebiet ist, auf dem in den letzten 20 Jahren strukturelle Fortschritte erzielt werden konnten.

Vor Kurzem einigten sich die entsprechenden Regierungsstellen und muslimische Repräsentanten auf die Einrichtung von mindestens vier universitä­ren Lehrstühlen für die so genannte „Isla­mische Theologie“. Neben anderen Aufgaben soll an diesen die erste deutsche Ge­neration muslimischer Religionslehrer ausgebildet werden. Parallel dazu beginnen in den ersten Bundesländern die Vorbereitungen für die Erteilung eines Islamischen Religionsunterrichts für muslimische Schulkinder an allgemeinbildenden Schulen.

Angesichts des heutigen Schulwesens und der Degradierung traditioneller, westlicher Bildungsideale stellt sich zwar nicht die Frage nach dem Sinn solcher Projekte, sondern danach, ob an ­heutigen Universitäten echtes Wissen vom Din erworben werden kann.

Für viele Muslime, die solchen Vorhaben durchaus wohlwollend gegenüber stehen, ist es dennoch keine Frage, dass wir in der Pflicht stehen, eine eigenstän­dige islamische Wissensvermittlung nicht aus dem Auge zu verlieren.

Das Ziel ist die Jugend
Am meisten geschieht dabei auf dem Gebiet der Jugendbildung. Sowohl die entsprechenden Moscheeverbände, als auch verbandsunabhängige Netzwerke haben sich die Vermittlung islamischen Wissens auf ihre Fahnen geschrieben. Wie handhaben sie die Zukunftsaufgabe konkret? Für die Kinder vom Vorschulalter bis in die Jugend „sind ­unsere Moscheegemeinden zuständig. Sie vermitteln in erster Linie Grundwissen über den Islam und allgemeine Themen. Ab 14-15 Jahren bekommt die Jugendabteilung die Aufgabe, sich um die Jugend­lichen zu kümmern. Das heißt, sie haben Projekte die sie wöchentlich beziehungsweise in bestimmten Abständen anbieten“, erläutert Mesud Gülbahar. Er ist Verantwortlicher für die Jugendarbeit bei der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG).

Zum Programm für die Heranwachsenden zählen häusliche ­Gesprächskreise, Lokalseminare und Vorträge in der Moschee. Bis zum 14. Lebensjahr „kann man jedes Wochenende mit den Kindern ein Programm durchführen. Allerdings wird es bei den etwas älteren schwierig. Dennoch werden für Jugendliche ab 14 oder 15 Jahren Wochenendcamps angeboten“. Dazu würden auch Imame oder Gelehrte eingeladen, die ihr Wissen weitergeben. Nach Angaben von Gülbahar organisiert die IGMG für Jugendliche Schulungen „mit Potenzial“ und Studen­ten in ihrer Zentrale. Hierzu werden ausgewählte Referenten aus dem In- und Ausland eingeladen. Dabei gebe die Organisation einen Lehrplan vor, dessen Inhalte vermittelt werden müssten.

In Zeiten von „Schaikh Google“ und der Desorientierung wissenssuchender Jugendlicher will die IGMG Halt ­bieten. Mit dem DIK (Din Istisare Kurulu) habe man ein Gremium verschiedener Gelehr­ter, die man telefonisch oder persönlich fragen könne. Für die Inhalte der Wissensvermittlung sei bei der IGMG, so Gülbahar, die Bildungs- und Irschadabteilung verantwortlich. Einrichtungen wie die Jugend- oder die Frauenabteilung hätten dann die Aufgabe, „diese Inhalte in diversen Kursen beziehungsweise Tagungen zu vermitteln“. Er sei froh, dass das Internet noch nicht zum dominanten Medium geworden sei. „Ich bevorzuge es, Wissen auf die traditionelle Art und Weise zu vermitteln. Das heißt, Zuhören und Notieren.“

Die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD e.V.) ist die größte verbands­ungebundene Initiative für muslimische Jugendliche. Ein Fokus der MJD liege „auch auf der Wissensvermittlung“, erklärte der Verein auf Anfrage. Dabei gehe es vorrangig weniger um einen „schular­tigen Unterricht“, sondern vielmehr „um ein bestimmtes islamisches Bewusstsein, was ganzheitlich – also sowohl durch Vorträge, aber auch durch Freizeitangebote oder gemeinsame ‘Ibadat – vermittelt werden soll“.

Bei der MJD werde Wissen nur selten frontal durch Gelehrte vermittelt, „sondern schwerpunktmäßig von Jugendlichen für Jugendliche aufbereitet. Islamische Inhalte orientieren sich jedoch an historischen wie zeitgenössischen Gelehrten“, beschrieb die Initiative ihren Ansatz gegenüber der IZ. Eine „bedeutende Errungenschaft“, von der viele junge Muslime profitiert hätten, sei das „Lokalkreis-Handbuch“. Es wurde in der Absicht geschaffen, den MJD-Lokalkreisen Vorträge zur Verfügung zu ­stellen und „zugleich die Linie der MJD hinsichtlich eines gemäßigten Islamverständ­nisses deutlich zu machen“. Das Angebot sei positiv von den Jugendlichen aufgenommen worden. „Dies kann auch verhindern, dass willkürlich ‘gehörtes’ oder ‘gesurftes’ Wissen beliebig weitervermittelt wird. Das Wissen, gekoppelt an die Gemeinschaft, wird für jeden so aufbereitet, dass es verständlich und nachvollziehbar ist, und hat verschiedenste Schwerpunkte.“

Es sei das Ziel der MJD, durch alle Veranstaltungen und Aktivitäten hindurch traditionelles islamisches Wissen – verbunden mit dem Bezug zur heutigen Zeit und der stetigen Verbesserung des höflichen Verhaltens zu vermitteln.

Das Internet kann durch sein Unübersichtlichkeit und Unterscheidungslosigkeit durchaus eine Gefahr ­darstellen. Und zweifelsohne ist es nicht der Ort, an dem direkte Wissensübertragung stattfindet. Aber es ist sicherlich ein guter Weg, um junge Muslime überhaupt erst einmal für echtes Wissen zu begeistern. Dem hat sich das relativ neue Netzwerk Da3waYourSelf [siehe auch Artikel auf S. 11] gewidmet. Der Berliner Tarek X schildert grundlegende ­Ansätze und Absätze des Projekts: „Wir von Da3waYourSelf bemühen uns, den Jugendlichen ein authentisches ­Verständnis über den Islam zu vermitteln. Der klassische Islam, repräsentiert durch die vier sunnitischen Rechtschulen, ist die verläss­lichste Quelle und hat durch Tasawwuf und tiefgehender Philosophie das Potenzial, die Herzen der Jugend zu erreichen. So liegt es uns am Herzen, das Gefühl von innerem Frieden und Glückseligkeit durch motivierende Arbeit zu teilen.“

Webseiten:
igmg.de
mjd-net.de & lokalkreis-handbuch.de
facebook.com/da3wayourself & ­youtube.com/da3wayourself