Die IZ-Reihe über den Alltag der Muslime. Von Sulaiman Wilms

Ausgabe 203

(iz). Es gibt kaum etwas normaleres als unser alltägliches Kaufen und Verkaufen beziehungsweise unsere Teilhabe am ganz normalen Wirtschaftsleben – entweder als Produzenten oder als Konsumenten. Wir partizipieren daran auf solch eine unbewusste Weise, dass wir uns nur selten darüber Gedanken machen, wie das Ganze eigentlich funktio­niert. Von alternativen Modellen – gera­de auch aus dem Islam heraus formulierten – ganz zu schweigen.

Eine beinahe schmerzhaften Ironie unserer Zeit ist, dass wir Muslime – kollektiv wie indivi­duell – diesen fundamentalen Bereich unseres Lebens kaum reflektieren. Ein oberflächlicher Blick auf die offiziellen Stellungnahmen des organisierten Islam oder Publikationen der sich herausbildenden akademischen Elite junger Muslime an deutschen Universitäten belegt, dass das Thema „Ökonomie im Islam“ – Handel, Märkte, Geld und alternative Produktionsformen wie Gilden sowie das Stiftungswesen – nicht vorkommt.

Und die Mu’amalat?
Vergleichen wir die (verbands-)politi­sche beziehungsweise intellektuelle Produktion mit den anerkannten Grundlagenwerken des islamischen Rechts bezie­hungsweise mit den konkreten Zivilisationsformen muslimischer Hochkulturen, die alle bis zu einem gewissen Grad von einer erfolgreichen Ökonomie abhängig waren, ergibt sich eine erkennba­re Diskrepanz.

Hier ist nicht der Raum, sich über die Ursachen der Neigung zu metaphysischen Fragen (Was ist meine Identität? Bin ich integriert? Wie funktioniert femi­nistische Qur’anexegese?) den Kopf zu zerbrechen. Soviel sei verraten: ­Sämtliche sozio-ökonomischen Aspekte, also die alltäglichen Transaktionen der Menschen auf gesellschaftlicher Ebene (die zwei Drittel Platz in der Muwatta’ von Imam Malik einnehmen) und die mit dem Begriff der Mu’amalat im islamischen Denken beschrieben werden (im Gegensatz zu den religiösen Ritualen, den ‘Ibadat), haben derzeit keinen hohen Stellungswert in der muslimischen Community. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der eben erwähnten Muwatta belegt die Bedeutung der Mu’amalat. Nachdem die Elemente der Anbetung aufgeführt werden, finden wir unter anderem: Opfertiere, festgelegte Erbteile, Heirat, Scheidung, die diversen Element des Handels, der Qirad-Vertrag, Erntepacht, Verpach­tung, Vorverkauftsrecht auf Eigentum, Urteile, Testamente, Schmerzensgeld, guter Charakter u.v.a.m. Bleiben wir bei Imam Malik und seiner Rechtsmethodik (die später als die Schule von Malik bekannt wurde), müssen wir auch die Mudawwana mit einbeziehen. Sie ist eine Zusammenstellung der Urteile von Malik, die nach dessen Tod von Sahnun zusammengestellt wurde. Hier finden sich viele, weitere Rechtsurteile zu ökonomi­schen Fragen.

Ebenso eine bedeutende ­Rechtsquelle zu ökonomischen Fragen – um beispiels­weise auf die hanafitische Schule zu verweisen – ist das osmanische Handbuch Mecelle (auch Majalla). Dort sind sehr viele Einzelurteile zusammengefasst.

Angefangen vom Qur’an, über die prophetische Lebensweise (die mehr ist als eine bloße Ansammlung von Hadithen) bis zur Entwicklung des islamischen Rechts, überall wird der Ökonomie ein hoher Stellenwert eingeräumt. Schon der arabische Fachbegriff für Religion (allgemein, als auch den Islam beschreibend) „Din“ leitet sich von dem arabischen ­Begriff für Schuld „Dain“ ab. Hier beschreibt er die Bringschuld des Menschen gegenüber seinem Schöpfer. Indem ­Allah uns alle – Muslime wie Nichtmuslime – versorgt, schulden wir ihm einen korres­pondierende Transaktion, der Din oder Islam und die darin geborgenen ­Rituale der Anbetung.

Der Elefant neben uns
Bisher ist weder empirisch, noch intel­lektuell untersucht worden, welche greifbaren und spirituellen Folgen es für eine muslimische Gemeinschaft – konkret die deutsche – hat, wenn sie die ökonomischen Regelungen des Islam weitgehend ignoriert beziehungsweise nicht kennt. Entgegen der landläufigen Vorstellung sind wir Muslime (dies betrifft auch die vermeintlich „strengen“ Gruppierungen) im Grunde gründlich säkularisiert. Wir können noch so streng sein, und uns um die minutiösen Details der Bekleidung sorgen, solange wir sämtlichen Grundfragen der Ökonomie großzügig umschiffen, können wir so „fundamentalistisch“ eigentlich nicht sein.

Ich kann mich nicht erinnern, dass es in letzter Zeit ein Dokument zur Zakat von Seiten des „organisierten Islam“ oder der neuen, akademischen Elite gegeben hätte. Die einzige Ausnahme sind jene Verbände oder Hilfsorganisationen, die potenzielle Geber animieren wollen. „Der politische Islam – ob in seiner ‘konserva­tiven’ oder ‘liberalen’ Ausprägung – war und ist mit Scheindebatten beschäftigt.“ Diese Quintessenz zieht der Autor Eren Güvercin in seinem neuen Buch „Neo-Moslems“ über die augenblicklich Bedeu­tung des ­Wirtschaftens und der islamischen Handelsregeln innerhalb der muslimischen Community. Wir haben es gewissermaßen mit dem sprichwörtlichen Elefanten zu tun, der zwar neben uns steht, über den aber niemand sprechen will.

Warum unsere Quellen relevant sind
Als Muslime hängen wir nicht der quasi-atheistischen Zweiweltenlehre an, wonach sich das Spirituelle beziehungsweise Religiöse aus dieser Welt herauszuhalten habe. Wir stehen gewissermaßen mit einem Bein in der sichtbaren Welt (arab. Dunja) und in der unsichtbaren. Daher können wir uns auch keine spirituelle Errettung beziehungsweise Reifung erhoffen, wenn dieser innere Zustand nicht mit einem entsprechenden Verhalten, auch einem ökonomischen, in dieser Welt korreliert. Und so ­müssen wir, wenn wir die Bedürfnisse unseres Herzen respektieren wollen, uns auch um unsere wirtschaftliche Realität ­sorgen; es reicht nicht, diese durch milde Gaben und Spenden zu delegieren.

Einer der Gründe, warum sich viele Menschen im Westen heute für den ­Islam entscheiden, liegt auch daran, dass sie – trotz vieler, brettharter Vorurteile – die Relevanz der qur’anischen Offenbarung erkannt haben. Vis-a-vis der heuti­gen Finanzkrise und der Unhaltbarkeit einer Wirtschaftsweise, in die auch wir Muslime voll „integriert“ sind, müssen sich daher auch entsprechende ­Verweise und Lösungsansätze finden lassen. Das gleiche gilt natürlich auch für die Lebensweise des Propheten, der in seiner Lebensweise den Qur’an verkörperte und zeigte, wie wir dieses Ideal im Alltag auch praktizieren können.

Die Beschreibung sämtlicher Regelungen oder die Entwicklung der rechtlichen Grundlagen des Handels im ­Islam und seiner Ökonomie würde und könnte eine ganze Bibliothek füllen (siehe unten für eine skizzenhafte Beschreibung). Im Augenblick braucht es meiner Meinung nach zuerst das Bewusstsein, dass wir nicht nur in der Pflicht stehen, uns um Kopftücher und Schweinefleisch zu kümmern, sondern auch um unsere ökonomische Realität.

Der Dichter Rilke sprach in einem ­Gedicht von den Ringen, in denen sein Leben kreist. Seine Herausforderung besteht darin, ob ihm der Übergang in den nächsten Kreis dieses Lebens noch gelin­gen kann. Auch unsere deutsche Community steht vor einer Entscheidung: Wollen wir die bisherige Entwicklungsrichtung fortsetzen und uns höchstens für die vermeintliche „Islamic Finance“ begeistern (heute angeboten durch adrette VertriebshelferInnen) oder nehmen wir unsere eigenen Grundlagen ernst. Diese Entscheidung kann uns niemand abnehmen. Ihre Folgen übrigens auch nicht.