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Die Geometrie des Geistes

Die heilige Natur des Qur’an als offenbartes Wort Allahs gab den ursprünglichen Impuls für den großen Aufbruch der Kunst des Schönschreibens. Sie begann mit dem Start der islamischen ­Zeitrechnung.
(SAM). Kalligraphie ist zweifelsohne der originellste Beitrag der muslimischen Welt zu den bildenden Künsten. Für Muslime ist die Kunst des Schönschreiben – insbesondere der Akt der Niederschrift des Qur’ans – vorrangig eine religiöse Erfahrung. Die meis­ten Nichtmuslime im Westen schätzen an ihr die Linienführung, Form, Fluss und Umrisse der arabischen Schrift. Viele wissen, dass das, was sie sehen, mehr ist als eine bloße Darstellung von Fähigkei­ten: Kalligraphie ist eine Geometrie des Geistes.
Die heilige Natur des Qur’ans als of­fenbartes Wort Allahs gab den ursprünglichen Impuls für den großen Aufbruch der Kunst des Schönschreibens. Sie be­gann mit den Start der islamischen Zeitrechnung im siebten Jahrhundert – und dauert bis heute an.
Kalligraphie gibt es in allen Größen – von riesig bis winzig – und auf allen Trägermaterialien – Papier, Keramik, Metall, Textilien und Architektur. Die Niederschrift des Qur’ans begann in einer Schrift, die von den Nabatäern entlehnt wurde. Die frühen Manuskripte waren kräftig, einfach und gelegentlich grob. Die zwischen dem 7. und 11. Jahrhundert benutzten Buchstabentypen kamen ur­sprünglich aus dem Hidschaz [jener arabi­schen Provinz, in der Mekka und Medina liegen]. Historiker unterteilen sie in drei Schriftfamilien: Hidschazi, Kufi und Persisches Kufi.
Das Hidschazi gilt als der Prototyp für die Schönschrift des Qur’ans. Sie ist hoch, dünn, vielfältig und verfügt über geschickte vertikale Linien. Kufi entwi­ckelte sich im 8. Jahrhundert. Von allen frühen Schriften ist sie die majestätischs­te – eine Reflexion der Stabilität und des Selbstvertrauens in der frühen Periode des klassischen islamischen Kunst. Bis zum 14. Jahrhundert war sie vom musli­mischen Spanien bis nach Persien in Gebrauch, wo im 14. Jahrhundert das Persische Kufi entwickelt wurde. Mit der Entwicklung der arabischen Schrift entstanden auch die diakritischen Zeichen [die so genannten Taschkil], die be­stimmte Buchstaben und andere Besonderheiten markieren. Zu Beginn wurden arabische Buchstaben ohne sie ­verwendet, da sich die Zeichen durch den sprachlichen Kontext erklärten. Heute gehören sie zum modernen Standardarabisch.
Westliche Gelehrte und Studenten benutzen oft den Begriff „kursiv“, um spätere, weniger rechtwinklige Schriften zu beschreiben. Muslimische Autoren des Mittelalters, die über Kalligraphie und die Entwicklung dieser Kunst schrieben, ordneten andere Schriften als das Kufi weniger der Form nach, als ihrer Funktion nach ein. Murattab (krummlinig) waren im Wesentlichen Schriften für höfische und weltliche Zwecke; dazu zählen Thulth, Tauqi’ und Riqa’. Jabis, oder gradlinige Schriften, sind Stile, die für den Qur’an und andere religiöse Kalligraphien benutzt werden; unter anderem Muhaqqaq, Naskh und Rayhan. Zusammen gelten sie als die sechs wichtigen „Hände“ der klassischen arabischen Kalligraphie.
Darüber hinaus gab es auch viele regionale Weiterentwicklungen. Aus dem Kufi entstanden in Al-Andalus und Nordafrika Andalusi beziehungsweise Maghri­bi. In Persien und unter den Osmanen entstanden unzählige Schriften. Diese erlangten weit über ihr Ursprungsgebiet hinaus Bedeutung. Die vielleicht wichtigste darunter war das Nasta’liq, das im 15. Jahrhundert in Persien entwickelt wurde und seine Perfektion ein Jahrhundert später erreichte.
Anders als frühere Typen wurde es für das Persische, nicht für das Arabische geschaffen. Im 19. Jahrhundert entwi­ckelten persische Kalligrafen unter der Qadscharen-Dynastie aus dem Nasta’liq die hoch-ornamentale Schikastah. ­Dessen Buchstaben sind unglaublich komplex, verworren und überhaupt nur für das geübte Auge zu lesen.
Bei den Osmanen entstand mindestens eine eigenständige Variante, die weit verbreitet war: Das sehr komplexe Diwani war sehr gut dafür geeignet, ­komplexe Sprachen wie das Osmanische auszudrücken; selbst eine Mischung aus dem Türkischen, Arabischen und Persischen. Benutzt wurde es für offizielle Kanzleidokumente und Firmans [Dekreten des Sultans]. Oft wurden diese durch eine sehr kunstvolle, kalligraphische Erfindung der Osmanen, die Tughra der Sultane (oder Monogramm beziehungsweise Siegel), eingeleitet.
Bis heute weiß man nicht, wann die Idee zu einer freistehenden ­Komposition auf Grundlage eines Wortes, eines ­Satzes oder eines Buchstaben zuerst entstand. Die möglicherweise erste Art dieses Typus war die Basmala (der Satz „im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers“), die von einer Ausnahme abgesehen jede Sure das Qur’ans einleitet.
Wegen der un­gleichen Verteilung der Buchstaben galt sie oft als Herausforderung und Test für die Fähigkeiten eines Schönschreibers.
Diese separaten kallligraphischen Kompositionen erreichten in den Händen osmanischer und persischer Künstler ihren ultimativen Entwicklungsstand im 18. und 19. Jahrhundert.
Bedeutung erlangte diese Variante des kunstvollen Schreibens, als ihre Meister das Papier als Trägermedium hinter sich ließen. Einige ihrer feinsten Beispiele finden sich in Samarkand auf Keramiken des 10. Jahrhunderts.
Aber die vielleicht wichtigste Anwendung des Schönschreibens auf Objekten ist die Architektur. In der ganzen muslimischen Welt gibt es kaum ein Gebäude, auf der sie fehlt. Üblicherweise wurden die Buchstaben zuerst auf Papier geschrieben und vor dem Brennen und Glasieren auf Kacheln übertragen. Oder sie wurde auf Stein übertragen und dann von Steinmetzen eingearbeitet. Osmanische und persische Meister signierten ihre Werke oft, aber in den meisten ­Fällen wissen wir nicht, von wem sie stammten.
Wir wissen, dass Meister des Schönschreibens häufig dafür geboren wurden. Sobald das Potenzial eines jungen Talents an den Tag trat, wurde er in die Lehre geschickt.
Er oder sie wurden in den grundlegenden Schriften unterrichtet, lernten die Anfertigung von Tinten und studierten höchstwahrscheinlich auch die Produktion von Papier, so­wie die Illumination der Manuskripte. Sobald der Lehrling als befähigt galt, um eigenständig zu arbeiten, erhielt er oder sie eine Lehrerlaubnis (Idschaza).
Auch wenn in Europa die Kunst und die Profession des Schreibers dank der Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert verschwand, brauchte es im Nahen und Mittleren Osten 400 weitere Jahre, bis die gleiche Entwicklung eintrat.
Die Kallligraphie dauert heute als religiöse und künstlerische Praxis an. In aller Welt leben herausragende Schönschreibet und ihre Arbeiten ziehen die Aufmerksamkeit eines globalen Publikums für die hohe Kunst der islamischen Schönschrift auf sich.