Das griechische Dilemma: Die Moschee und die Kirche

Ausgabe 266

(iz). Als die Griechen im Januar 2017 über ihre finanzielle Zwangslage, die endlosen Verhandlungen mit den internationalen Gläubigern und die harte Sparpolitik, der man sie auslieferte, debattierten, gelangte ein Jahrhunderte altes Thema erneut in die öffentliche Diskussion.
Wie die Tageszeitung „I Kathimerini“ (mit einem Artikel und einem Bild von Arbeitern, die den Grundstein einer Struktur einer unbestimmten städtischen Geographie legten) ankündigte, hatte der Bau der zentralen Moschee in Athen endlich begonnen!
Wer mit der Geschichte solcher Strukturen im Westen vertraut ist, weiß, dass der Bau zentraler Moscheen immer ein langwieriger und komplexer Prozess ist. Denn diese Stätten entfachen stets voreilige Debatten über Architektur, städtische Planung, Gastfreundschaft, den Kulturell-Anderen und schließlich über das Kollektive Selbst und seiner Stellung in der Welt. Und Griechenland ist keine Ausnahme. Der Bau einer Moschee in Athen hat mehr als ein Jahrhundert in Anspruch genommen. Und die Diskussion des Projektes über die Jahre spiegelt konfliktreiche Anschauungen der griechischen Identität wieder.
Seit der Einführung des Projektes im Jahre 1890, besprachen die staatlichen Beamten die Initiative mit zahlreichen ausländischen Ansprechpartnern: mit den Osmanischen Behörden, mit König Fuad von Ägypten, dem saudischen König Fahd, den Vertretern der Europäischen Union und dem US-Außenministerium, einem Komitee arabischer Botschafter und seit dem 11. September mit Polizeibeamten, Sicherheitsexperten und Geheimdiensten, die sich um die Verbreitung inoffizieller Moscheen in der griechischen Hauptstadt sorgen. Und während sich die staatlichen Ansprechpartner angesichts der ständig wechselnden internationalen Lage dauernd änderten, erfuhren auch der vorgeschlagene Standort, die Architektur und die Verwaltungsstruktur der Moschee ihre Veränderungen.
Während die Moschee gegen Ende des 19. Jahrhunderts an einem zentralen Standort am Piräus in der Nähe eines türkischen Friedhofs entstehen sollte, plante man sie in der Mitte der 1990er Jahre als Teil eines islamischen Kulturzentrums neben einer neuen Autobahn am Stadtrand, gänzlich abgeschottet von der Öffentlichkeit. Während die Moschee mit ihren geschmückten Kuppeln und Minaretten Mitte der 1930er Jahre das orientalistische Gegenstück zu einem Park in Athen darstellten sollte, sollte sie in einer neueren Iteration in einer ehemaligen Militärbasis erbaut werden und eine Struktur aufweisen, die keine Elemente enthält, die sie mit dem Islam in Verbindung bringen könnten.  Wie lassen sich diese Veränderungen im Projektentwurf erklären?  Was kann uns die Geschichte einer solchen Initiative über die Art und Weise der Selbstwahrnehmung der Griechen sagen?
Die Antworten auf diese Fragen finden sich in den Geschichtsbüchern, aus denen hervorgeht, dass die Erfahrung der Griechen als Untertanen des Osmanischen Reiches möglicherweise zu einer populären Tendenz geführt hat, den Islam mit den Türken zu identifizieren und das orthodoxe Christentum als eine Schlüsselkomponente der nationalen Identität wahrzunehmen.  Außerdem war die Expansion des griechischen Staates im 20. Jahrhundert durch eine systematische Bemühung gekennzeichnet, eine ethnische, religiöse und linguistische Homogenität in den neuen, soeben annektierten Territorien zu schaffen. Der Bevölkerungsaustausch von 1923, im Rahmen dessen in Griechenland wohnhafte Muslime in die Türkei und die in der Türkei lebenden Christen nach Griechenland umgesiedelt wurden, die Ausmerzung der Jahrhunderte alten jüdischen Gemeinden während des Zweiten Weltkrieges und die darauf folgende Identifizierung jeglicher slawischer Elemente mit Russland und dem Kommunismus infolge des Bürgerkrieges und des Kalten Krieges ließen wahrscheinlich in großen Teilen der Bevölkerung die Anschauung aufkommen, dass Griechenland von griechisch-sprechenden, orthodoxen Christen bewohnt wird. In diesem Kontext wurde die Errichtung einer muslimischen Kultstätte in der griechischen Hauptstadt als eine Angelegenheit angesehen, die in die ausländischen Beziehungen Griechenlands fällt und somit von Diplomaten angegangen werden muss.
Die ersten Risse dieses Verständnisses offenbarten sich Ende der 1990er Jahre, als Griechenland gerade den Zugang zur Einheitswährung fand und die Olympischen Spiele von 2004 ausrichtete. Zu dieser Zeit errichteten Tausende von Einwanderern aus Pakistan, Afghanistan und dem Nahen Osten inoffizielle Kultstätten in der gesamten griechischen Hauptstadt. In einer Zeit, in der die europäischen Länder immer noch für die Idee des Multikulturalismus plädierten, wurde der Bau der zentralen Moschee in Athen von einigen Staatsvertretern als eine Gelegenheit gesehen, der Welt zu beweisen, dass Griechenland nun auch in dieser Hinsicht europäisch war. Die Lage nahm nach dem 11. September eine Wende. Während der Widerstand gegen die Moschee in der Vergangenheit vor allem die Beziehungen Griechenlands zur Türkei betraf, lenkten die Angriffe in New York die Aufmerksamkeit auf das Thema der Sicherheit und der möglichen Verbindung zwischen Religionszugehörigkeit und Terrorismus. So änderten sich plötzlich auch die Fragen, die sich die griechischen Vertreter stellen sollten. Wer sind diese Muslime, die sich in den inoffiziellen Kultstätten versammeln? Wer sind deren Anführer und was genau predigen sie?  Werden sie von Regierungen unterstützt, die radikale Auslegungen des Islam vertreten?
Die kurze Chronologie zeichnet die Verwandlung einer Angelegenheit vom Bereich des Kosmopolitismus und der Außenpolitik in den Sicherheitsbereich nach. Heutzutage ist es für eine griechische Regierung einfach undenkbar, die vorhandenen osmanischen Moscheen im Zentrum von Athen während des Fastenmonats Ramadan zu eröffnen, wie es während der Militärdiktatur vor 50 Jahren der Fall war. Denn die Regierungsvertreter wissen zu gut, dass eine solche Initiative zum Gegenstand von Meinungsumfragen werden wird, endlos in den Fernsehstudios, Online-Foren und in der Presse debattiert und möglicherweise katastrophale Auswirkungen auf das politische Überleben haben wird. Und die finanzielle Zwangslage des Landes gestaltet diese Diskussionen zweifelsohne nicht einfacher. In einer Zeit, in der große Teile der Bevölkerung die rapide Verschlechterung ihrer Leben durch das Prisma von Verschwörungstheorien, apokalyptischen Prophezeiungen und erfundenen Geschichten betrachten, werden alle, die mit diesem Projekt in Verbindung stehen, leicht dessen bezichtigt, Pläne ausländischer Regierungen, muslimischer Terroristen, neuliberaler Kontrolle und der neuen globalen Ordnung auszuführen.
Da der Faschismus inzwischen Teil des Landes, und eine offensichtliche Neunazi-Partei im Parlament vertreten ist, ist es keineswegs überraschend, dass die Gegner der Moschee eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Landes vorgeschlagen haben, und zwar in Form des sogenannten nationalen Gelübdes. Der Begriff geht auf die Kirche des Erlösers zurück, für dessen Bau die vierte Nationalversammlung am 31. Juli 1829 abstimmte. Mit dieser Initiative hofften die Revolutionäre, ihre Dankbarkeit für die teilweise Befreiung der Griechen vom Osmanischen Reich zum Ausdruck zu bringen. Sie stellten sich den Bau einer monumentalen Kirche vor, um die Position Griechenlands im christlichen Europa räumlich fest zu verankern (ähnliche Initiativen erlangten ein zentrale Rolle in den neuen nationalistischen Narrativen). Das Fehlen von Ressourcen, einher gehend mit der Errichtung einer neuen, der Maria Verkündigung gewidmeten Kathedrale in Athen verhinderte tatsächlich die Errichtung der Kirche zu Ehren des Weisen im 19. Jahrhundert. Auch nach vielen Jahrzehnten, in den 1960er Jahren, präsentierten die Kirchenfunktionäre die Initiative als ein unerfülltes nationales Gelübde. Seitdem wurde die Geschichte dieses vermeintlich unerfüllten nationalen Gelübdes — und normalerweise als Antwort auf jeglichen Versuch eines Moscheebaus — neu aufgegriffen, um christliche Aktivisten, orthodoxe Geistliche, Armeeoffiziere, hohe Richter und Bewunderer des griechischen Militärregimes zusammenzuführen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass das Parlament, als die Fundamente für die zentrale Moschee gelegt wurden, einen Antrag zwecks Erfüllung des nationalen Gelübdes stellte. Ein engagierter christlicher Aktivist fragte: „Warum sollte der Staat in diesen Zeiten der schweren Finanzkrise seine begrenzten Ressourcen für den Moscheebau einsetzen, während das Gelübde unserer Ahnen unerfüllt bleibt?“
Warum werden diese konkreten oder fiktiven Kultstätten so schnell zu Orten der öffentlichen Auseinandersetzung? Warum ziehen sie so einfach die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit an? Begehen Sie keinen Fehler! Die Errichtung einer zentralen Moschee oder einer Großkirche in Athen ist nicht nur eine Angelegenheit, die mit Menschenrechten und Religionsfreiheit zusammenhängt, sondern auch mit der Bedeutung dessen, was heute ein Grieche ist. Diese konkreten oder fiktiven Stätten werden unvermeidlich zu Plattformen, auf denen widersprüchliche Anschauungen der griechischen Identität ihren Ausdruck finden und das neue kollektive Selbst geprägt, dargeboten, dokumentiert und archiviert wird. Sobald sie Gegenstand öffentlicher Umfragen, von TV-Sendungen, Zeitungsartikeln und Internetkommentaren werden, erzählen uns deren Geschichten, wer wir sind, wie es um unsere Vergangenheit steht, welchen Stellenwert wir in der Welt einnehmen und wer an unserem Gemeinwesen und unserer Nation teil hat.
Für die Befürworter der Moschee geht es vordergründig um die symbolische Beschaffenheit der Initiative, denn die Struktur ist zu klein, um alle Muslime der griechischen Hauptstadt aufzunehmen. Mit dieser Moschee möchte der griechische Staat die dauerhafte Anwesenheit tausender Muslime anerkennen und de facto akzeptieren, dass Griechisch-Sein nicht mehr bedeutet, Christ zu sein.
Für die vehementen Gegner der Moschee, die das nationale Gelübde als angemessene Gegenstruktur präsentieren, gilt die dauerhafte Pflege einer exklusive Identität als Garant für das Überleben der Nation. Für sie bedeutet das Griechisch-Sein die Erinnerung an die Ursprünge der Nation im Kampf gegen die Türken und den Islam und das Bewusstsein dessen, dass der Moscheebau die Durchführbarkeit der religiösen Unterbringung überschreitet und die nationale Identität in ihrem Kern gefährdet.