Die Muslime sind ein „großer Lackmustest“ für das heutige Europa. Von Dr. Nicolas Beger & Selcuk Gültasli

Ausgabe 207

(Zaman.com). Amnesty International (AI) ist eine der anerkanntesten Menschenrechtsorganisationen der Welt. Die global ­aktive Vereinigung hatte in der jüngsten Zeit einige recht kritische Verlautbarungen veröffentlicht, in denen sie die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union monierte. Diese Statements erlauben den Schluss, dass die EU ihren, nicht hinterfragten Spitzenrang als den Verteidigerin von Menschenrechten verlieren könnte.

In seinem folgenden Text macht Dr. Nicolas Beger, AI-Leiter des Büros für Europäische Einrichtungen, sehr deutlich, dass er von der Leistung der Europäischen Union bei der Verteidigung der Menschenrechte klar enttäuscht ist. Trotz der Selbstverpflichtung der Europäer, diese Rechte zu verteidigen, ignoriere man Rechtsverstöße in EU-Mitgliedsstaaten.

„Das Problem ist ein verzweifelnder Mangel an politischem Willen“, ­sagte Beger in einem Exklusivinterview mit der englischsprachigen Ausgabe der türkischen Tageszeitung „Zaman“. Bezüglich der Diskriminierung von Muslimen in Europa erläuterte er, dass es kein ausreichendes Verständnis für eine Lösung dieser Frage gebe.

Betrachtet man die Europäische Konvention für Menschenrech­te (ECHR), so hat keine ­andere Region ein ähnlich starkes Instrumentarium. Es braucht also keine weiteren Standards, sondern den eigentlichen Willen, sie auch verbindlich umzusetzen. Daran mangelt es heute. Die Europäische Kommission (EC) fokussiert sich üblicherweise auf die Begrenzungen der Anwendbarkeit ihrer eigenen Charta für Grundrechte, anstatt sich darum zu bemühen, diese pro-aktiv zum Einsatz zu bringen.

Die Kommission ist nicht immer gewillt, die Mittel zur Verbesserung der Menschenrechte einzusetzen, die ihr zur Verfügung stehen. Aber das wirkliche Problem liegt eher bei den EU-Mitgliedsstaaten als bei der Kommission. Das ist von globaler Peinlichkeit. Die Kommission ist im Grunde ziemlich gut darin, die Dimension der Menschenrechte in Sachen ihrer auswärtigen, globa­len Beziehungen einzusetzen. Sollte sie eines der Dinge umsetzen, die sie auf ih­ren Maßnahmenkatalog gesetzt hat, kann sie sich unseres Beifalls sicher sein!

Das Problem besteht nicht nur darin, was eines der EU-Mitglieder im Inneren macht, sondern auch darin, wie sich die einzelnen Mitglieder zwischenstaatlich zur Rechenschaft ziehen. Hier besteht wenig Leidenschaft für die Übernahme von Verantwortung. Betrachten wir beispielsweise die schrecklichen Bedingungen, unter denen die 12 Millionen Roma [und Sinti] in Europa leben müssen: Die Kommission bemüht sich, etwas für ihre soziale Einbeziehung zu erreichen, aber wenn es sich um die Mitglieder handelt – beispielsweise bei der Einschränkung von Hassreden -, dann ist der Appetit auf etwas grundlegendes und ­ernsthaftes sehr schwach.

Selbst Pakistan kritisiert die EU: Es ist sehr interessant, dass Pakistan, das selbst keinen beeindruckenden Nachweis bei Menschenrechten hat, der EU vor den Vereinten Nationen sagt, dass diese Pakistan nicht predigen kann und das AI-Dokument über die EU-Behandlung ihrer Roma-Bevölkerung vorlegt. Wir erleben einige solcher Vorfälle, bei denen die EU ihr Durchsetzungsvermögen verliert, weil sie nicht in der Lage ist, auf diese Art Kritik zu reagieren.

Einige europäische Roma können beispielsweise nicht bei den Wahlen zum Europaparlament in Italien wegen der Art und Weise wählen, wie sie von den italienischen Behörden behandelt werden. Wir ­hatten ebenfalls darauf gehofft, dass die Kommission ihre Kräfte benutzt, um sich gegen Beschlüsse zu stemmen, als die Roma aus Frankreich ausgewiesen wurden. Aber sie haben das nicht gemacht. Ich habe bisher keine ausreichend befriedigende Antwort von der EU-Kommission erhalten, warum sie ihren Einfluss nicht genutzt hatte.

Muslime sind eine der drei Gruppen in der Europäischen Gemeinschaft, die im umfangreichen Maß unter Menschenrechtsverletzungen leiden. Während das Problem der Roma bekannt ist und es ein wachsendes Bewusstsein um die Schwierigkeiten der LGBT-Gemein­schaft [engl. Abkürzung für Homo-, Bi- und Transsexuelle] gibt, herrscht nur wenig Verständnis, Willen oder Offenheit, Diskriminierung von Muslimen zu bekämpfen. Für mich ist dies ein großer Lackmustest für die EU. Es ist unbeliebt, sich um Muslime zu sorgen. Und wir haben Fälle entdeckt, in denen Muslime plötzlich keine Orte der Anbetung mehr bauen können.

Natürlich gibt es eine Dimension der Radikalisierung, aber Radikalisierung kann überall problematisch werden. Derzeit ist es zu leicht, Vorurteile gegen Muslime und islamische Gemeinschaften zu hegen.

So gibt es beispielsweise allgemein akzeptierte Vorurteile gegen Muslime, die wir niemals erlauben würden, würden sie sich gegen jüdische Menschen richten. Hierbei geht es nicht um einen Vergleich, sondern eher um die Tatsache, dass es so unangefochten und anerkannt ist, Vorurteile gegen Muslime zu äußern, sie auf dem Arbeitsmarkt zu diskriminieren und nichts dazu zu sagen. ­Frauen mit Kopftuch sind tatsächlich oft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, egal wie gebildet oder wie konkurrenzfähig sie sind. Sie bleiben ausgeschlossen, weil sie ein Kopftuch tragen.

Wir geben Milliarden aus, um Einwanderer draußen zu halten, aber investieren nur sehr wenig in die Integration. Die EU ist nicht gewillt der Tatsache ins Auge zu sehen, dass vier Fünftel der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung in den ärmsten Ländern der Welt leben. Die EU übernimmt auch nicht im Entferntesten einen gerechten Anteil dieser Last. Alles ist darauf ausgerichtet, diese Einwanderung abzuwehren. Die stolzeste Sache, welche die EU für ihre Bürger erreicht hat, ist die Freizügigkeit. Im Augenblick beschränken wir diese Reise- und Niederlassungsfreiheit, um sicherzustellen, dass diese Nordafrikaner draußen bleiben. Betrachten wir doch, was nach den Unruhen in der Arabischen Welt im letzten Jahr geschah: Insgesamt kamen 25.000 Menschen nach Europa – nicht einmal die Hälfte eines Fußballstadium – in die 27 Mitgliedsstaaten der EU. Das ist keine Krise. Das ist solch ein kleines Problem und wir machen eine politische Krise daraus, so als wären Millionen Menschen in Europa ­angekommen!

Gelinde gesagt bin ich beschämt und enttäuscht. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Erst vor 50 Jahren begann Europa damit, mehr Menschen einzuführen als zu exportieren. Es ist nicht so lange her, dass schreckliche Dinge vor sich gingen: der 2. Weltkrieg und Massaker auf dem Kontinent, die jüngsten Balkankriege. Haben wir aus all diesen schrecklichen Ereignissen gar nichts über internationale Solidarität gelernt?

Der EU droht mehr als der Verlust ­einiger, interner Stimmen. Es sind insbesondere politische Parteien während der letzten 20 Jahre, die Panik verbreiten und die Leute einschüchtern. Deutschland nimmt heute nur fünf Prozent der Flüchtlinge auf, die es in den 1990er Jahren ins Land ließ. Und was Italien macht, ist beschämend. Es gab eine Entscheidung des Europäischen ­Gerichtshofes für Menschenrechte (EUCHR) gegen Italien wegen des Zurückdrängens nach Libyen. Obwohl das Gericht Italien dazu verurteilte, Flüchtlinge auf die Art und Weise zu bedrohen, wie Italien dies tut, haben die Behörden das Urteil ignoriert und ein neues Abkommen mit Libyen geschlossen. Aber Italien ist nicht das einzige EU-Land, das so handelt.