Die Muslime und das geheime Europa

Ausgabe 275

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(iz). Im nächsten Jahr stehen die Wahlen zum Europaparlament an. Zur Disposition wird die politische Zukunft eines vereinten Europas stehen. Schon heute zeichnet sich am Horizont der Kern öffentlicher Debatten ab, die die großen politischen und ökonomischen Themen unserer Zeit betreffen. Sie drehen sich um nichts anderes als die Bewältigung der großen Krisen der letzten Jahre: den drohenden Kollaps europä­ischer Banken und die Fragen der andauernden Zuwanderung. Es sollte aber auch um die Identität Europas selbst gehen. Vor Jahren schon warnte Jacques Delors, ehemaliger Präsident der EU-Kommission: „Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, dann wird das Spiel zu Ende sein.“
Jenseits der zunehmenden Rationalisierung, Bürokratisierung und Technisierung unseres Kontinents stellt sich die schlichte Frage, was Europa eigentlich jenseits des Materialismus ausmacht. Wer gehört dazu und was macht es aus, ein Europäer zu sein? Zu diesem Thema gibt es zur Zeit auf nationaler und europä­ischer Ebene wichtige Neuerscheinungen. In Deutschland hat Dieter Borchmeyer mit seinem Buch „Was ist Deutsch?“ schon auf eine geistige Tradition der deutschen Dichter und Denker hingewiesen, sich selbst als ein Teil eines geistigen Europas zu definieren, das nicht an nationalen Grenzen endet. „Deutsch-Sein heißt eigentlich übernational, heißt europäisch, heißt weltbürgerlich denken. So ist es nämlich in allen klassischen ­Definitionen des Deutsch-Seins der Fall gewesen“, beschrieb der Wissenschaftler diesen höheren Anspruch.
In die gleiche Richtung wirkt nun eine Publikation von Rüdiger Sünner, die sich dem „geheimen Europa“ widmet. Seit drei Jahrzehnten ist der Filmemacher auf der Suche nach den spirituellen Traditionen Europas. In seiner Auswahl geht es zum Beispiel um die spirituellen Visio­nen der Romantik, den Mythenmissbrauch der Nazis, die Friedensmissionen des Schweden Dag Hammarskjöld, die Tiefenpsychologie des Schweizers C.G. Jung, die Anthroposophie des Österreichers Rudolf Steiner, die „Mystikerin“ Dorothee Sölle, den „Schamanen“ Joseph Beuys und den aus Rumänien stammenden Dichter Paul Celan. So unterschiedlich die Denkbewegungen der angesprochenen Persönlichkeiten ausfallen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie entziehen sich dem gewohnten kulturellen und ­religiösen Mainstream.
Die Impulse aus dem Werk dieser Denker, Dichter und Künstler sind für Sünner wichtige Bausteine für ein künftiges Europa. Eines, das sich nicht als Bollwerk gegen Fremde begreift, das mehr ist als nur ein Wirtschaftsverbund, sondern eine besondere Seelenlandschaft. Die Gestalt Joseph Beuys verweist für den Autor dabei auch auf eine typische Fragestellung des geheimen Europas: Wie können die Seele, der Geist, die Spiritualität angesichts des Siegeszuges der Technik und neuer Technologien – von der Atom- bis zur Finanztechnik – weiter bestehen? Sünner geht es dabei nicht um eine Festlegung auf eine bestimmte Form der Naturverbundenheit oder um ein konkret verfasstes religiöses Leben, ­sondern eher um die Bewahrung des ­Erbes des geheimen Europas selbst, das bei allen politischen Debatten um Europa doch zunehmend in Vergessenheit zu ­geraten scheint.
Der Begegnung geistiger Kräfte mit der politischen Situation widmet sich auch eine Neuerscheinung von Volker Weidemann. Unter dem Titel „Träumer, als die Dichter Macht übernahmen“ beschreibt Weidemann ein vergessenes ­Kapitel deutscher Geschichte. In der Münchner Räterepublik 1918/19 waren Schriftsteller und Dichter nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Akteure einer – allerdings kläglich scheiternden – politischen Revolution. Für einige Monate ­versuchen sich die Protagonisten am Traum von sozialer Gerechtigkeit und direkter Demokratie. In der Münchner Regierung zieht ein revolutionärer, chaotischer Geist ein, der Bayern vor dem Unwesen des internationalen Kapitals retten soll. Für einige Zeit gibt es auch einen ungewöhnlichen „Finanzminister“. Sylvio Gesell plante in der bayrischen Hauptstadt eine neue Wirtschaftsordnung, die auf einem Zinsverbot und der Einführung einer Schwundgeldwährung beruhen sollte. Kurioserweise werden sich Mitglieder der Europäischen Zentralbank 2014, bei der Erklärung der Einführung des negativen Zinses und der Besteuerung des Geldes unter anderem auf den Volksvertreter der Räterepublik für Finanzen berufen. Die Räterepublik selbst bleibt eine Episode, wird letztlich blutig niedergeschlagen und die Trennung zwischen geistigen Eliten und politischer Führung nachhaltig vollzogen.
Man kann zusammenfassen, dass der Begriff des „geheimen Europas“ einerseits auf vergessene geistige Impulse und andererseits auf verdrängte historische Zusammenhänge anspielen will. An dieser Stelle gibt es zweifellos einen weiteren Verknüpfungspunkt zu einer anderen aktuellen Debatte, die sich um die populär gewordene Frage dreht, ob der Islam zu Europa gehört. Auch hier begegnen wir wieder den „geheimen Denkern“ und verdrängten historischen Phänomenen.
Erst in den letzten Jahren ist die Beschäftigung Goethes mit dem Islam wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Der Autor des „West-östlichen Diwans“ hat sich bekannterweise intensiv mit den geistigen und spirituellen Dimensionen des Islam befasst. Er las den Qur’an, bewunderte die arabische Sprache und begeisterte sich für die Dichtung der Muslime. So versuchte er, das Weltphänomen in seine eigenen philosophischen und religiösen Überzeugungen einzuordnen. Goethe verkörpert auf diese Weise die unvoreingenommene Annäherung an die tiefere, geheime Essenz der muslimischen Lebenspraxis. Ein Stil, der heute in Zeiten politisierter Debatten, die sich meist um Extreme und Ideologisierung von Muslimen drehen, eher selten geworden ist. Islam als eine Inspirationsquelle kommt im Diskurs um das künftige Europa kaum noch vor.
Natürlich lässt sich die Suche nach den „geheimen Europäern“ auf europäische Muslime ausweiten. In einer eindrucksvollen Chronologie hat der britische Historiker Muhammad Mojlum Khan 50 große muslimische, europäische Gestalten vorgestellt, die in ihren Werken zum religiösen, spirituellen und philosophischen Erbe Europas beitragen. Für Khan ist diese Chronologie des islamischen Denkens in Europa der Gegenentwurf zur These, dass Europäer und Muslime sich in einem dialektischen Gegensatz bewegen müssten. Das fehlende Bewusstsein über diesen Beitrag geht nicht ­zufällig einher mit der Verdrängung der islamischen Geschichte Europas – sei es auf dem Balkan, Sizilien oder in Andalusien. Fakt ist, nur wenige Vertreter und Vertreterinnen dieses geheimen Europas sind heute in den Debatten um die Existenz der Muslime in Europa noch präsent. Zu den wenigen Ausnahmen gehört hier sicher der Universalgelehrte Ibn Ruschd (1126-1198) aus Cordoba. Er hat in über 100 Büchern eine ganzheitliche Lehre mit einer beeindruckenden Themenvielfalt, vom islamischen Recht bis zur Dokumentation griechischer ­Philosophie hinterlassen. In seinem Werk begegnet vernünftiges, rationales, europäisches Gedankengut der islamischen Offenbarung. „Eine Wahrheit kann der anderen nicht widersprechen. Die Philosophie stimmt mit dem Glauben überein und legt Zeugnis für ihn ab“, bekannte der große europäische Muslim und Verehrer des Aristoteles.
Sein Werk steht so stellvertretend für eine Tradition europäischer Muslime, die den philosophischen Fragen ihrer Zeit nicht ausweichen, sondern sie immer ­wieder neu aufnehmen und beantworten wollen. Ibn Ruschd war dabei nicht nur der berühmte Philosoph, sondern auch ein praktizierender Muslim, ein herausragender Kenner von Imam Malik, dem Ausgangspunkt der malikitischen Rechtsschule, dessen Werk „Al-Muwatta“ der andalusische Denker sogar auswendig konnte. Es sind nicht zuletzt ökono­mische Themen und Fragen, die in ­seinem Denken reflektiert werden und heute wieder größte Aktualität beanspruchen können. Hier stellt sich auch eine echte philosophische Frage für den heutigen Kontinent: Warum hat das ­politisch aufgeklärte Europa gleichzeitig eine ­irrationale, sich auf endloses Wachstum berufende Wirtschaftsordnung ­erschaffen?
Wenn man die Themen der „geheimen Europäer“ insgesamt als eine Sehnsucht nach Spiritualität, nach Einheit und der Suche nach politischen und ökonomischen Alternativen begreift, dann lässt sich die Antwort des Islam auf die Schlüsselfragen der Existenz nicht einfach von dieser geistigen Fragestellung Europas abtrennen. Mehr noch, es wundert auch nicht, dass immer wieder Europäer aus der Beschäftigung mit diesem geistigen Erbe auch auf die islamische Lebenspraxis stoßen. Viele von ihnen sehen in der Annahme des Islam nicht etwa einen Bruch, sondern die Fortsetzung ihrer Traditionen.
Während sich viele europäische Intellektuelle auf die Auseinandersetzung mit der Radikalisierung von Muslimen beschränken, bleibt die hintergründige Faszination für den Islam und seiner Einheit von Wissen, Denken und Glauben bestehen. Es sind gerade auch europäische Muslime, die einerseits die Gefahren der Ideologisierung von Religion erkennen, aber andererseits auch den geistigen Beitrag der islamischen Lebenspraxis wieder neu aufleben lassen.
Angesichts der Politisierung aller Fragestellungen, die den Islam heute betreffen, gilt es wieder, den ganzheitlichen Bedeutungszusammenhang islamischer Praxis zu betonen. Hier geht es nicht zuletzt um die Themenvielfalt, also die Bezüge zur Ökonomie, Soziologie und Philosophie herauszustreichen. Die alten Fragen und Sehnsüchte des „geheimen Europas“, sie müssen gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Islam, zumindest wenn sie sich nicht auf Kopftücher und Terroristen beschränkt, wieder neu gestellt und beantwortet werden.