Die Pandemie und die Frage nach der Wahrheit

Ausgabe 300

Foto: The White House

(iz). In den letzten Monaten hat die Debatte über die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie uns alle beschäftigt. Inzwischen herrscht eine Art Glaubensstreit über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Ökonomie. Der Versuch, die Gesellschaft auf eine objektive Wirklichkeit zu fixieren, stößt dabei auf Widerstand. Die Gründe für eine Spaltung der Meinungen im Umgang mit dem Jahrhundertereignis sind vielschichtig. Zuletzt standen besonders extreme und abwegige Haltungen, bis hin zu Menschen, die das Virus für eine Erfindung oder als Teil eines Komplotts halten, im Zentrum der Diskussionen.

Michael Butter hat bereits 2018 ein interessantes Buch („Nichts ist, wie es scheint“) über das Phänomen der Verschwörungstheorie publiziert. Diese Art der Theorie, manche sagen auch Ideologie, wird vom Publikum meist intuitiv erfasst. Jeder der den Begriff klar zu ­definieren versucht, trifft allerdings auf einige theoretische Schwierigkeiten. Nach Butter sind Verschwörungst­heorien grundsätzlich unwahr, niemals beweisbar und zeichnen sich meist durch drei typische Charakteristika aus: nichts geschieht durch Zufall, nichts ist, wie es scheint und alles ist miteinander ­verbunden.

Nach diesem Muster diskutieren manche Kreise in Deutschland nunmehr eine „Superverschwörungstheorie“, die die Finanz-, die Flüchtlingskrise und die ­aktuelle Pandemie verknüpft und im Ergebnis immer die gleiche Verschwörung von dunklen Kreisen und „Hintermännern“ zu entdecken glaubt. Die Absurdität der Theorie einer jahrzehntelangen Regentschaft hinter den Kulissen, die die Geschichte der ganzen Welt kontrolliert, ist evident.

Der Ruf nach Freiheit, genauer Freiheit von, der auf den Demonstrationen erschallt und sich gegen die staatliche Bevormundung in diesen Tagen richtet, muss also mit der Frage nach dem „herrschenden Gedanken“ (Nietzsche) dahinter befragt werden. Beim rechten Populismus ist die Antwort beispielsweise klar, es geht nicht wirklich um Gesundheitspolitik, sondern um den Rückzug auf den Nationalstaat und eine neue Form der Deutschtümelei.

Das Problem des „Framing“ als Verschwörungstheoretiker ist dennoch die Unschärfe des Begriffes und die Neigung ganze Gruppen mit dieser Terminologie und den damit verbundenen Assozia­tions­ketten zu verknüpfen. „Framing“ beschreibt Olav Arndt auf Telepolis „ist eine Methode der Verknüpfung von Stichworten, eine Selektion von komplexen Informationen, die in Schubladen sortiert werden, damit man bestimmte gesellschaftliche Vorgänge einfacher ­verstehen kann“. Die Markierung als Verschwörungstheoretiker geht heute einher mit der sozialen Verbannung in die Randbezirke der Gesellschaft.

In der aktuellen Pandemie-Debatte sollte man nicht vergessen, dass zwar eine Mehrheit von ca. 66 Prozent die staatlichen Maßnahmen vollumfänglich unterstützt, es aber auch eine beachtliche Zahl von Menschen gibt, die – aus ganz unterschiedlichen Gründen – Bedenken und Vorbehalte artikulieren. In der Welt am Sonntag stellte Bundestagspräsident Schäuble klar, dass das Versammlungsrecht für eine offene Gesellschaft grundsätzlich konstituierend ist. Schäuble ­formuliert in seiner Beurteilung des Protestes einen Mittelweg:

„Dass sich in ­solche Demonstrationen mitunter auch Personen mit abstrusen Theorien begeben, lässt sich nicht verhindern. Niemand ist vor dem Beifall von der falschen Seite sicher. Allerdings rate ich jedem, der zu unserem Grundgesetz steht, zu Extremisten Abstand zu halten, um sich nicht auf die eine oder andere Art anzustecken.“

Jenseits der Extreme gibt es demzufolge eine Kritik an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in der ­Pandemie-Bekämpfung, die auch aus der bürgerlichen Mitte kommt. Diese Einwände gilt es nach wie vor ernst zu nehmen. Die Kombination von Gesundheitspolitik und moderner Technologie, ruft letztlich die langfristig zu beurteilende Frage auf, ob wir die neuen Techniken in der Zukunft kontrollieren oder sie uns. Und, wie es der italienische ­Philosoph Giorgio Agamben zuspitzte, der Wille zum biologischen Überleben, darf nicht in Systeme führen, die auf Kosten der Menschenwürde konstruiert werden. Slavoj Zizek erinnerte bereits daran, dass „erhabene Objekte der Ideologie“, sei es die Sicherheit oder die ­Gesundheit, unsere Diskurse nachhaltig strukturieren und beeinflussen. Man könnte aus letzterem Hinweis den Schluss ziehen, dass auch gute Ziele zu ideologischen Positionen führen könnten. Wie immer man zu diesen Debatten steht, es muss in jedem Fall auch weiterhin erlaubt sein zu streiten, welche der staatlichen Maßnahmen wirkungsvoll waren oder nicht. Der Anspruch, dass Gesetze und Verordnungen auch im Notstand Verhältnismäßigkeit zu sein haben, dürfte ebensowenig ernsthaft zur Debatte stehen.

Letztendlich kann aber die notwendige Zurückweisung von Extremisten, Spinnern und Verschwörungstheoretikern die Widersprüche der Gesellschaft, rund um den Begriff der Wahrheit, nicht zudecken. Butter trifft hier den realen Punkt, der im Lärm um die Verschwörungstheoretiker und ihren extremen Haltungen nicht einfach untergehen darf: „Die derzeitige Diskussion – Verschwörungspanik in manchen Teilöffentlichkeiten, Verschwörungstheorie-Panik in anderen – ist ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften. Denn wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mehr meistern.“

Der Alarmismus um die Verschwörer hat in Deutschland eine lange Tradition. Unter dem Titel „verkappte Religionen“ hat schon der Stralsunder Carl Christian Bry (1892-1926) die Verwirrungen über die unzähligen neuen Weltanschauungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschildert. Das Buch war damals ein Bestseller und widmet sich insbesondere den diver­sen antisemitischen Verschwörungstheorien. Das Gebiet, eine Welt der Irrtümer, beschreibt er zeitlos: „Die verkappten Religionen verfügen, fast allein in unserer Zeit – und schon das sichert ihnen Bedeutung – über Gemeinden von heißen Fanatikern, die erfüllt und streitbar für ihr Weltbild kämpfen.“

Bry bemüht sich auf 250 Seiten, die nach wie vor Aktualität beanspruchen können, um Klärung, Abgrenzung und Definition über den heute vielbesungenen, und unbestimmten Begriff der „Verschwörungstheorie“. Sein einfaches Fazit kann als Aufruf zur Mäßigung ­verstanden werden: Nicht alles, was wir für wahr halten, ist wahr.

Geht man der deutschen Wahrheitsdebatte auf den Grund, wird man sich letztendlich mit dem Werk Friedrich Nietzsches auseinandersetzen müssen. Der Philosoph, der sich selbst für ­Dynamit hielt, sprengte Mitte des 19. Jahrhunderts das Gebäude der christlichen Metaphysik mit seinen berühmten drei Worten: Gott ist tot. Nietzsche war überzeugt, dass die Erschütterung des Wahrheitsanspruches des Christentums und der sich abzeichnende Nihilismus, Europa für mindestens zwei Jahrhunderte bestimmen würde. Der Philosoph ahnte, dass bald neue „Wahrheiten“, in Form von Ideologien und neuen Heilsversprechen, die politische Wirklichkeit der Menschen bestimmen würden. „Wahrheit“ schreibt Nietzsche in seinem Nachlass lapidar „ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von ­lebendigen Wesen nicht leben könnte.“ Zu Lebzeiten bekämpfte Nietzsche in seinen Werken die sich abzeichnenden, neuen Idole der Deutschen, sei es der Nationalismus, in Form der Deutschtümelei, der Sozialismus oder den um sich greifenden Antisemitismus.

Nach den Verheerungen, die die Ideologien des 20. Jahrhunderts in Europa angerichtet haben, ist eine Wieder­belebung dieser Art von Wahnsinn in Deutschland zu Recht ein Tabu. Die ­Demokratie muss sich aber neuen Herausforderungen stellen, die nicht aus dem Feld der Politik stammen und man unter der Frage nach der Technik zusammenfassen könnte. Der absolute Wahrheitsanspruch der Wissenschaft und die Gefahren neuer Technologien wird in Deutschland seit Jahrzehnten diskutiert. Die Möglichkeiten neuer ­Gesundheitspolitik im Zusammenspiel mit Hightech-Innovationen, der Finanzindustrie und Big Data sind Teil dieses größeren Zusammenhangs. Tagespo­litische Entscheidungen, wie immer sie ausfallen mögen, ändern an diesen Grundfragen wenig.

Der Kampf um die Wahrheit zeigt sich in der aktuellen Pandemie gerade in der grundlegend unterschiedlichen Bewertung um die Rolle des Virus für unser künftiges Leben. Religiöse Charaktere werden darin eine Strafe Gottes sehen wollen, Naturphilosophen beklagen eine Reaktion der Natur, die sich gegen das menschliche Vorhaben sich die Welt ­untertan machen zu wollen, wehre, während Andere dem „dummen und blinden“ (Levi-Strauss) Virus keine transzendierende Bedeutung geben ­wollen. Wie denken wir Muslime über das Phänomen?

Die nüchterne und rationale Entscheidung der muslimischen Gemeinden, als Reaktion auf die Pandemie, die Moscheen zu schließen und die Glaubenspraxis einzuschränken, zeigt unseren Respekt vor den gewaltigen Auswirkungen dieser Krise. Gleichzeitig bewahrt unsere Lebenspraxis vor den Fundamentalängsten, die die aktuellen Debatten bestimmen: die Furcht vor dem Tod, den Verlust von Wohlstand oder eine bedrohte Versorgung. Der Anspruch auf Wahrheit ist dabei nichts, was wir Muslime selbst erfüllen können, sondern der Offenbarung zugeordnet wird. Im Qur’an, Sure 57, Al-Hadid, lesen wir:

„Es preist Allah (alles), was in den Himmeln und auf der Erde ist. Und Er ist der Allmächtige und Allweise. Ihm gehört die Herrschaft der Himmel und der Erde. Er macht lebendig und lässt sterben. Und er hat zu allem die Macht. Er ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene. Und Er weiß über Alles ­Bescheid.“