Die Rahmenbedingungen für islamische Wissenschaften verändern sich stetig. Eine Analyse von Abu Bakr Rieger

Ausgabe 237

(iz). In Zeiten in denen Theologen weniger auf die Qualität ihres Wissens, als auf ihre politische Haltung geprüft werden, fürchten Muslime wohl zu Recht die weitere Politisierung ihrer Lebenspraxis. Der Sprachwissenschaftler Mohamed Seif hat diese Tendenz gegenüber der Verwendung von islamischen Begriffen untersucht. Im FOCUS stellte Seif unlängst eine allgemeine Politisierung aller islamischen Begriffe fest. Islamische Terminologie wird zunehmend zwanghaft in den Kontext von Politik, Gewalt und Terror gestellt und damit ein unbefangener wissenschaftlicher Gebrauch von vornherein erschwert.
Die Tendenz moderner Medien, mit Suchmaschinen die islamische Lebenswirklichkeit von über eineinhalb Mil­liarden Muslime auf bestimmte „skandalöse“ Phänomene zu durchforsten, verstärkt diesen Trend. Hinzu kommt die beschränkte Teilnahmemöglichkeit von Muslimen an dieser, zunächst von den Medien getriebenen, öffentlichen Debatte. Es droht der vollständige Verlust der Definitionshoheit. Die Assoziation der islamischen Begriffe und Riten mit dem modernen Terror hat dabei nicht nur psychologische Tiefenwirkung, sondern auch beinahe absurde Züge. Man denke nur an den erhobenen Zeigefinger der Terroristen nach dem Gebet, eine symbolische Handlung, die sie bedauerlicherweise mit allen anderen Muslimen gemeinsam ausüben und die von der Presse sofort skandalisiert wurde.
Es ist also für uns Muslime wichtig, zumindest nach dem Selbstverständnis dieser Zeitung, die Definitionshoheit über den Islam und seine Grundlagen nicht vollständig zu verlieren. Das Problem: hier geht nichts ohne aufwändiges Studium. Allein für eine einigermaßen korrekte Einordnung der islamischen Rechtstradition, sind zum Beispiel umfangreiche Nachforschungen nötig. Nötig ist hier nicht nur das Studium der Offenbarung selbst, sondern auch die Aufarbeitung des geschichtlichen Kontextes der Verse, Kenntnisse über die historische Realität der ersten Gemeinschaften, die Geschichte der Begriffe, die Traditionen der Wissensvermittlung, oder die spätere Entwicklung der Rechtsschulen. Nur wenige Muslime erfüllen hier die fachlich anspruchsvollen Voraussetzungen, um nicht einfach nur zur weiteren Begriffsverwirrung beizutragen.
Beinahe genauso wichtig sind aber auch die Bezüge zur europäischen Staatslehre. „Alle Begriffe der Staats- und Politiklehre sind säkularisierte christliche Begriffe“, heißt es bei Carl Schmitt grundsätzlich. So kann beispielsweise die Lektüre der unlängst veröffentlichen Vorträge Pierre Bourdieus „Über den Staat“, entscheidend über das Verständnis der Entwicklung moderner Staaten beitragen. Bourdieu macht in seinen Vorlesungen deutlich, wie tief die Idee des modernen Staates unser Denken und seine Begrifflichkeit inzwischen bestimmt. Das Problem zeigt sich gerade dann, wenn die erste Gemeinschaft der Muslime fälschlicherweise als „ein Staat“ gedeutet wird. Es leuchtet ein, dass insbesondere die Begriffskombination „Islam“ und „Staat“ wesentlich ist, um die schleichenden, historisch bedingten Veränderungen im Verständnis der Muslime gegenüber Recht, Politik und Ökonomie besser zu begreifen.
Wenn man die Auffassung teilt, dass ein „liberaler“ und „guter“ Islam nicht be­deuten kann, dass der Islam sich als verbindliche Lebenspraxis von Geboten und Verboten praktisch auflöst, aber man auch die kritische Frage zulassen will „Was ist der Islam überhaupt?“, dann ist die Freiheit der Lehre dabei ein wichtiges Element. Hier gilt es, sich bewusst zu machen, dass gerade die letzen zweihundert Jahre der Lehre von der Fremdbestimmung und politischen Bevormundung des Islam geprägt sind. Vier Akteure streiten sich in der islamischen Welt im Grunde um die Definitionshoheit über den Islam: die säkular verfassten Staaten und ihre Repräsentanten, die Modernisten, die ´Ulama und die verschiedenen Facetten der „Islamisten“.
Alle diese Denkmodelle reflektieren dabei auf verschiedene Weise, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert, die veränderte Lage der islamischen Welt nach den Innovationen Europas im Feld der Technik. Neue bankenfinanzierte Staaten, neue technologische Erfindungen, überhaupt neue Techniken der Macht, ermöglichen Europa eine imperiale Politik und zwingen die islamische Welt zur andauernden Reaktion und Reform ihrer Traditionen. Die jahrhundertelange Basis der muslimischen Gemeinschaft, ihres Rechts und die verhältnismäßig sekundäre Bedeutung der Politik wandeln sich fundamental. Das islamische Leben gerät zunehmend aus dem Gleichgewicht.
Der Historiker Thomas Weiberg hat unlängst dieses Spannungsverhältnis zwischen islamischer Tradition in der Begegnung mit der modernen Technik am Beispiel des osmanischen Herrschers Sultan Abdulhamid eindrucksvoll nacherzählt. In der Türkei hat eine Reformbewegung unter anderem den zentralisierten, säkular verfassten Nationalstaat hervorgebracht. Der Staat schafft dabei neues Recht, das unter anderem in die ökonomische und soziale Autonomie der Bevölkerung eingreift. Die Muslime schwanken seit dem nicht nur in der Türkei, je nach Ausgangslage ihrer Denkmodelle, zwischen dem Verlangen, das westliche Gesellschaftsmodell zu kopieren, zu islamisieren oder schlicht zu ­bekämpfen.
Im 21. Jahrhundert verschärft sich die Suche der Muslime nach dem richtigen Weg aus zwei Gründen: Zum Einen lösen sich wichtige Staaten, deren Grenzen aus der imperialen Epoche stammen, praktisch auf, es kommt zu Chaos und Bürgerkrieg, zum Anderen verschärft sich der Streit der Muslime um die ideale politische Konstellation, sei es die Demokratie, die Monarchie oder diverse Vorstellungen eines Kalifats.
Zu der Intensität des politischen Streits gesellt sich auch die allgemeine Begriffsverwirrung und der Trend des politischen Islam, in seinen Facetten von liberal bis konservativ, Recht und Offenbarung als der eigenen Machtpolitik untergeordnete Größe anzusehen. Der moderne Terrorismus toleriert erstmalig in der islamischen Welt den Grundsatz, dass der politische Zweck alle Mittel heiligt. Überhaupt wird Politik, die sich um den Staat dreht, zum wichtigsten Bezugspunkt im Denken ganzer Generationen von Muslimen. Im Streit politischer Parteien wird dabei die Möglichkeit des Konsens zur Utopie.
Nach den Jahrzehnten der Kämpfe, um die Deutung islamischer Begrifflichkeit und die Darstellung der Geschichte des Islam, ist es aber durchaus angebracht, auch die fundamentalen Fragen immer wieder neu zu stellen. Hier können die einfachsten Fragen zugleich die Schwersten sein. „Was ist der Islam?“, ist dabei eine so selten gestellte, wie klar beantwortete Definition. In der Debatte wird von muslimischen Repräsentanten oft bezeugt, was der Islam nicht ist, aber selten nachvollziehbar argumentiert, was er positiv ist, also ob der Islam schlussendlich eine Religion, ein Nomos, eine Ideologie oder eine Lebenspraxis darstellt.
Bleiben wir bei dem Bild der Politisierung der Geschichte, Wissenschaft und Praxis der Muslime und der Einsicht, dass ein unabhängiges Bild über den ursprünglichen Islam unbedingt den Einfluss von moderner Staats- und Politiklehre beachten muss, wird die Suche nach neuen Denkansätzen dringend.
Interessant ist hier ein Blick auf das Werk des Gelehrten Wael B. Hallaq, der islamisches Recht an der McGill Universität lehrt. Der Wissenschaftler bewegt sich bei seiner Forschung nach dem Wesen des Islam dabei notwendigerweise im Feld islamischer, aber auch europäischer Geschichte. Sein neuestes Buch trägt bewusst den wohl umstrittensten Begriff der islamischen Lehre, „Shari’at“, als Titel. Auf beinahe 600 lesenswerten Seiten geht er der Theorie, der Praxis und der Reformierung dieses komplizierten Begriffes nach.
In seiner Systematik weist der Autor die simplen Versuche, die eigenständige Terminologie des Islam vorschnell in ein politisches System einzufügen, überzeugend zurück. Im ersten Kapitel dieses wichtigen Buches spricht der Gelehrte über die vor-modernen Traditionen des Islam und zeigt die eigentliche Dynamik von Recht und Gesellschaft auf. Im zweiten Kapitel geht es um die positive Substanz des offenbarten Rechts und im dritten Kapitel um die Modernisierung, genauer gesagt die Politisierung des Rechts. Im modernen Staat wird das Recht, wie es Talal Asad formuliert, zum Teil politischer Strategien, die alte Optionen zerstören und neue begründen will. Für Hallaq ist die Idee eines islamischen Staates paradox.
Für sein Anliegen, die Transformation des islamischen Rechts in der Moderne aufzuzeigen, unterscheidet Hallaq also notwendigerweise die vor-staatliche, vor-moderne Realität der muslimischen Gemeinschaft, deren entscheidende Basis von Beginn an der Konsens war. Das gemeinsame Verständnis über den Islam und seine Grundlagen wurde durch lokale, unabhängige Studienzirkel (Halaqa) hergestellt. In den ersten Jahrhunderten war die islamische Erziehung an der Basis etwas völlig unpolitisches. „Überhaupt hatten“, so Hallaq, „bis zum Beginn der Moderne die herrschenden Mächte wenig mit der Produktion oder Verkündung von rechtlichen Entscheidungen zu tun.“ Viel mehr war im Selbstverständnis der Autoritäten nicht die Schaffung des Rechts, sondern die Umsetzung rechtlicher Gebote und Verbote im Mittelpunkt ihrer Herrschaft. Das Recht war, mangels der Existenz derartiger staatlicher Strukturen, nie „Ausdruck einer staatlichen Allmacht und die Scharia“, so Hallaq, „ein Ausdruck verschiedenster kultureller, sozialer und ökonomischer Komponenten.“ Natürlich waren die Muslime nicht nur an eine Methodenlehre gebunden, sondern mit ihren sozialen Netzwerken an der Rechtspraxis auch unmittelbar beteiligt.
Im weiteren Verlauf der islamischen Geschichte wurde die Bildung der Muslime stetig formalisiert und das finanziell geförderte Madrassa-System zum Bindeglied zwischen Bevölkerung und Regierung. Aber, noch immer war über lange Jahrhunderte Einfluss der Regierung auf die Rechtsfindung begrenzt, auch deswegen, weil in der komplexen sozialen Realität muslimischer Gesellschaften, viele Konflikte schon fern der Gerichte geschlichtet wurden. Hallaq zeigt in seinem Buch eindrucksvoll, wie die Methodik der Erziehung, der Rechtsfindung und Rechtspraxis sich laufend den Herausforderungen der Zeit anpassten, zum Teil auch in organischer Veränderung. Dabei wehrt er sich gegen die moderne Glorifizierung der Doktrin des Fortschritts, oder die unkritische Übernahme der westlichen Sicht, das Mittelalter sei eine dunkle Epoche gewesen, auf die islamische Geschichte.
Zweifellos ist für Hallaq die Etablierung des modernen Nationalstaates in der islamischen Welt ein wichtiger, bisher viel zu wenig reflektierter Wendepunkt. Moderne islamische Staaten sind dabei aus ökonomischen Gründen gezwungen, zunächst ihr Wirtschaftsrecht zu ändern, also zum Beispiel das Verbot von Riba aufzugeben. Nationalstaat und Diktatur verändern nachhaltig die gesellschaftlichen Grundbedingungen und damit auch die Rolle des islamischen Rechts.
Viele Muslime sehen heute mit guten Gründen die islamische Gemeinschaft, mit ihren Grundelementen Moschee, Markt und Stiftung, weniger als Teil einer Staatsreligion, sondern als Fundament einer dynamischen und unabhängigen Zivilgesellschaft.