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Die Reform der Strukturen

Ausgabe 269

Foto: aboutpixel, shamane

(iz). Spricht man in diesen Tagen über „Alternativen“ im politischen Kontext, denkt man zunächst an die berühmte Aussage der Kanzlerin ange­sichts der Finanzkrise, die sie mit „there is no alternative“ kommentierte und anschließend an die Gründung der sogenannten „Alternative“ für Deutschland. Die Suche nach Alternativen bestimmt inzwischen viele Diskussionsfelder unserer Zeit, die durch die Produktion von Krisen einen allgegenwärtigen Veränderungsdruck erzeugt. Im Kern wird es den Muslimen nicht um eine Reform des Islam gehen, wohl aber um die Reformierung überkommener Struk­turen. Die Botschaft ist also simpel: Keine gesellschaftliche Gruppierung kann im Lichte radikaler Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse heute einfach stillstehen.
Auch die muslimische Gemeinschaft reflektiert also notwendigerweise, wie sie sich auf die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen hier und jetzt einstellen soll. Während der organisierte Islam kaum, zumindest nicht öffentlich, über die notwendige Reformierung seiner Strukturen spricht, sind viele Muslime in den sozialen Medien längst mit der Destruktion der Verhältnisse beschäftigt. In verschiedenen Debatten werden Unzufriedenheit über die Performance der Verbände geäußert, der antiquierte Bezug zur ethnischen Herkunft infrage gestellt und die Forderung nach Transparenz und Ortsbezogenheit der Entscheidungsebenen geäußert. Natürlich muss man daran erinnern, dass jede schnelle Des­truktion leichter fällt als die mühsame Konstruktion von echten Alternativen.
Zudem werden heute gewohnte Begrifflichkeiten destruiert, man will nicht mehr von „dem Islam“ und „den Muslimen“ sprechen. Inzwischen ist klar, dass niemand alleine weder für die Muslime in Deutschland sprechen, noch sie vertreten kann. Angesichts der Vielfalt der Muslime und des heute akzeptierten pluralen Verständnisses des Islam, ist es nicht mehr so einfach, das künftige Subjekt einer muslimischen Geschichtsschreibung zu definieren.
Letztendlich stellt sich aber auch die Frage, zumindest wenn man nicht nur eine Leerstelle schaffen will, wer – und in welcher Form – überhaupt künftig muslimische Aktivitäten anbietet. Das alte Modell denkt hier noch zu stark in der Formensprache der Repräsentanz, der zentralisierten Organisation von Mitgliedern und der Idee einer Stärke, die sich aus der Zahl der Vertretenen ergibt. Es gibt längst einen Gegentrend, der hier durchaus dezentrale und alternative ­Formen bevorzugt.
Im islamischen Recht selbst gibt es hier zunächst einen wichtigen Anstoß. Die muslimische Gemeinschaft basiert letztlich auf der lokalen Moscheegemeinde, die – so unterschiedlich ihre Mitglieder sein mögen – eine einfache Ordnungsfunktion anerkennt: die Zahlung der Zakat. Sie wird lokal erhoben und lokal verteilt, die Anerkennung dieser einfachen Verpflichtung definiert auch die Akzeptanz der lokalen Autorität, ohne dass es hier zunächst überhaupt weitere, zentralisierte Organisationsformen bräuchte. Die Erfüllung eines Pfeilers des Islam und die Erneuerung des ursprünglichen Sinnes dieses Gebotes zeigen auch die zeitlose Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit der Offenbarung an. Sie hat insoweit eine Art Ankerfunktion.
Natürlich steht es den Muslimen nach wie vor frei, sich zu größeren Verbünden zusammenzuschließen, zum Beispiel, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen oder gesellschaftlichen Einfluss auszuüben. Hier stellt sich aber zunehmend die Frage, ob diese Machtstrukturen von unten nach oben, oder von oben nach unten organisiert werden. Viele Muslime, insbesondere muslimische Jugendliche, sind sich hier einig, dass sie in ihrer Religionsgemeinschaft mitbestimmen wollen und dass die Entscheidungsebene bestenfalls in ihrem Umfeld, zumindest aber in Deutschland sein sollte. Hier kommt auch ein neues Verständnis für die natürliche, meist urbane Einbettung jeder Community und die Bedeutung guter Nachbarschaft ins Spiel. Muslime sind zunehmend bereit, gesellschaftliche Probleme nicht isoliert, sondern im Wechselspiel mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, ob muslimisch oder nicht, gemeinsam vor Ort zu lösen.
Darüber hinaus entwickelt sich die Forderung nach einer muslimischen Zivilgesellschaft, die das Miteinandersein der Muslime neu strukturiert. Die Verbände neigten bisher dazu, nur die jeweilig eigenen Machtstrukturen auszubauen und deren Interessen autonom zu vertreten. Gleichzeitig wächst aber an der Basis das Verlangen nach Querverbindungen, nach der gemeinsamen Verfolgung von Absichten, welche die Abgrenzungen durch antiquierte Verbandsstrukturen bisher eher behindern.
Die Idee von neuen Gilden, Zusammenschlüssen von Berufsgruppen, seien es Lehrer, Rechtsanwälte oder Journalisten, erinnern beispielsweise daran, dass die Reform von muslimischem Leben nicht per se im Widerspruch zur eigenen Tradition stehen muss. Heute ist wieder, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, klar, dass die Komplexität der Moderne nur in Gruppenarbeit zu bewältigen ist.
Die Suche nach Alternativen geht also einher mit der Wiederbelebung von bewährten Formen der Organisation und durch Innovationen, die sich aus dem technischen Fortschritt ergeben. Schon heute sind die wirklich spannenden, freien Diskurse eher im Internet zu finden, als in der realen Begegnung der unterschiedlichen Köpfe und Vordenker, die jede Gemeinschaft naturgemäß hat. Immer häufiger wird auch bemängelt, dass der organisierte Islam weder ausreichend Gemeinsamkeiten, überhaupt das innerislamische Gespräch, fördert oder koordiniert, noch die Dynamik der Präsenz der Muslime in Deutschland wirklich erwecken konnte.
Nicht zu übersehen ist auch der Trend aus den erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Projekten der anderen. Ein Beispiel im Bereich der Medien ist das Projekt der taz, dem alternativen Medienhaus dem grünen Projekt. Die Zeitung ­basiert auf dem Einsatz tausender LeserInnen, die der grün-alternativen Bewegung eine Stimme verleihen wollten. Heute verfügt dieses basisdemokratische Medienprojekt über eine unabhängige Zeitung, eine ­Genossenschaft, die über eine Stiftung alternatives Gedankengut fördert und somit eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft spielt.
Es ist bezeichnend für die Beschreibung der Situation der Muslime in Deutschland, dass sie einseitig auf das politische Potential der Muslime bezogen ist. Muslime verfügen aber auch über ein beachtliches ökonomisches und soziales Potential. Sie bsitzen eine große Kaufkraft, folgen dabei ethischen Ansprüchen und verlangen nach bestimmten Produkten. Die Idee muslimischer Einkaufs­genossenschaften oder Kooperativen, die gemeinsam kaufen oder gar produzieren, ist bisher noch kaum entwickelt. Warum sollten aber ein paar Hundert Muslime nicht nur eine Moschee bauen, sondern auch einen landwirtschaftlichen Betrieb, einen Laden oder ein Café gemeinsam aufbauen?
Bisher setzten muslimische Organisationen stark auf die staatliche Förderung. Aber auch hierzu gibt es längst Alternativen. „Crowdfunding“ ist eine weitere zeitgemäße Erfindung, die bei der Selbstorganisation zivilgesellschaftlicher Einrichtungen künftig eine wichtige Rolle spielen könnte. Diese Form der Finanzierung passt zu dem zweifellos vorhandenen, idealistischen Potential der Muslime, die gerade durch das Sammeln vieler kleiner Beiträge auch größere Projekte gemeinsam verwirklichen könnten.
Ist es ein Zufall, dass diese Alternativen bisher nicht ausreichend genutzt werden? Ein Grund für diese Blockade könnte sein, dass sie einen Mentalitätswandel voraussetzt. Im Mittelpunkt dieser anderen Initiativen steht nicht die Ermächtigung einer bestimmten Organisation, sondern die notwendige Dienstleistung gegenüber den Muslimen. Es geht insoweit mehr um die Bedürfnisse der Basis als die der Zentrale. Wer immer etwas Gutes tut, wird hier unterstützt, erfährt Solidarität und Zuspruch. Diese Aktion dreht sich also nicht nur um den eigenen Erfolg, sondern gerade um den Erfolg der Anderen.
Ein Schlüsselphänomen dieser Art von sozialer Dynamik ist die Bereitschaft zur Synergieentfaltung. Frauen und Männer treffen sich und sprechen über ihre ­Ansprüche und überlegen, wie sie sich gemeinsam helfen oder agieren könnten. Die eigenen Möglichkeiten werden dabei in dem Maße potenziert, wie soziale Kontakte überhaupt zur Verfügung stehen. In dieser Hinsicht fehlt es noch an intelligenter Koordination, also an Platt­formen, die nicht nach Zugehörigkeit zu Verbänden unterscheiden, sondern durch das Interesse an bestimmten Sachthemen offene Verbindungen schaffen. Es ist ein Nebeneffekt dieser Einstellung, dass eine inhaltliche Vielfalt entsteht und Muslime sich mit neuen Feldern beschäftigen, ­seien es der Umweltschutz oder Beiträge zum nachhaltigen Leben.
Auch hier ergeben sich aus den sozialen Medien neue spannende Optionen. Der thematisch orientierte Zusammenschluss von Muslimen geschieht hier zunächst auf virtueller Ebene, aber mit dem Ziel, auch reale Begegnung und reale Projekte vorzubereiten. Hierbei geht es um keine dauerhafte Mitgliedschaft in einem Verband, sondern um ein Engagement auf Zeit, dass nicht mit einer politischen ­Anbindung an eine bestimmte Politik einhergehen muss.
Eine Alternative wäre hier eine virtuelle Koordinationsplattform, die das aktuell enorme Potential der Muslime zusammenführt und für neue gemeinschaftsdienliche Projekte wirbt. Damit wirken neue Kommunikationslinien, die nicht nur vertikal hierarchisch aufgebaut sind, sondern horizontal durch die ganze Community verlaufen.