Die vier Imame spielten eine entscheidende Rolle bei der Formation des islamischen Rechts. Von Massouda Khan

Ausgabe 205

Die Ära der vier Imame – Malik, Abu Hanifa, Asch-Schafi’i und Ibn Hanbal – war ein Wendepunkt der islamischen Geschichte. Die Formierung der vier Rechtsschu­len, die jenen Imamen ihren Namen verdanken, diente der Gewährleistung dessen, was die Salaf den Muslimen hinter­ließen. Dies benötigte die Befolgung einer Tradition, die Erneuerung einer ­Zugehörigkeit und die Bestätigung gesunder methodischer Prinzipien.

Zugegebenermaßen, es gibt keinen spezifischen Zeitpunkt, an dem diese Formierung im wörtlichen Sinne stattfand. Die geschichtliche Bedeutung der vier Imame erwuchs graduell über einen ­bestimmten Zeitraum. Nicht nur ihre Funk­tion als Individuen, sondern auch die ihrer Lehrmethode, den sie schufen, um mit dem Recht umzugehen, Urteile zu finden und Lösungen für neue ­Situationen aus den Quellen des Islam abzuleiten.

Zu ihrer Lebenszeit herrschte eine ­Offenheit für den sich verändernden Zeitcharakter. Es wurde anerkannt, dass Wechsel eine natürliche und anhaltende Bedingungen der Welt ist, die Allah erschuf. Die Zeit dieser Gelehrten war ein Moment des beschleunigten sozialen Wandels – auch dank der neuen Völker und Kulturen, die insgesamt den Islam annahmen. Gleichermaßen war dies ein Augenblick der zunehmenden kulturellen Begegnung und der daraus folgenden gegenseitigen Befruchtung. Einerseits waren die Imame sehr nah an der Ära des Propheten, seiner Gefährten und ihrer Nachfolger. Gleichzeitig standen sie vor dem Anbruch neuer, sich erweiternder politischer, sozialer und kultureller Horizonte.

Es ist wahr, dass jeder Imam eine bestimmte Anhängerschaft hat. Aber in den allgemeinen Prinzipien des religiösen Glaubens und in ihren grundlegenden methodischen Annahmen, sind sie sich einig. Selbst bei Fragen des islamischen Rechts gibt es mehr Übereinstimmung als Meinungsverschiedenheiten, obwohl Unterschiede in sekundären Fragen vollkommen akzeptabel oder gar eine ­Quelle für Flexibilität sind.

Die offenen Streitpunkte sind gewissermaßen eine Gemeinsamkeit. Damit machten sie der Nachwelt deutlich, dass es legitim ist, in bestimmten Fragen anderer Meinung zu sein. Ihre ­abweichende Rückschlüsse waren das Ergebnis umfangreicher Überlegungen und kein Hinweis auf religiöse Abweichung. Ihre Schlussfolgerungen stammten entweder direkt aus den heiligen Texten oder wurden mit Hilfe korrekter methodischer Prinzipien abgeleitet.

Man könnte behaupten, dass nur eine ihrer Meinungen angesichts divergierender Ansichten richtig sein kann. Betrachten wir die Angelegenheit jedoch von der Perspektive legitimer Meinungs­unterschiede selbst, dann können wir erkennen, dass pluralistische Sichtweisen in solchen Fragen rechtmäßig sind. Daher griffen sich die Imame auch nicht ­gegenseitig an, wenn sie zu unterschied­lichen Rückschlüssen kamen. Jahja ibn Sa’id Al-Ansari pflegte zu sagen: „Leute des Wissens sind flexibel. Die Rechtsgelehrten sind immer unterschiedlicher Meinung. Einer wird erlauben, was der andere für unrechtmäßig hält. Der eine wird jedoch den anderen nicht ­zurechtweisen.“

Die Rechtsgelehrten hatten ihre Vorläufer in den Prophetengefährten und in ihren frühen Unterschieden. Genau wie der Jurist Ibn Qudama sagte, können diese Unterschiede als Allahs Barmherzigkeit gesehen werden. Das gleiche gelte für die Übereinstimmung der Gefährten in einer bestimmten Frage, was einem eindeutigen Beweis gleichkomme. Der frühe Khalif ‘Umar ibn ‘Abdalaziz sagte: „Es würde mir keine Freude berei­ten, wären die Gefährten des Prophe­ten immer einer Meinung gewesen. Wäre dies der Fall, gäbe es keine Bewegungsfreiheit in der Religion.“

Ishaq ibn Buhlul zeigte Imam Ahmad ibn Hanbal sein Buch, indem er die Angelegenheiten zusammenstellte, in denen die Prophetengefährten und ihre direkten Nachfolger unterschiedlicher Meinung waren. Er sagte Ibn Hanbal, das Buch solle „Das Buch der Meinungsverschiedenheiten“ heißen. Der Imam riet, es vielmehr „Das Buch der Flexibilität“ zu nennen. Dies ist die Anerkennung, dass einige Dinge feststehen und sicher sind. Bei anderen jedoch muss es möglich sein, dass die Leute unterschied­liche Ansichten haben.