Dramatische Zunahme von zivilen Opfern in Mossul

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Berlin/Mossul (GFP.com). Neue Berichte mehrerer Nichtregierungsorganisationen bestätigen die dramatische Zunahme ziviler Todesopfer durch Luftangriffe der Anti-IS-Koalition auf Mossul und Raqqa. Wie Amnesty International in einem gestern publizierten Bericht schreibt, sei in den vergangenen Monaten eine “schockierende” Zunahme der Bombardierung Unbeteiligter zu verzeichnen gewesen; “hunderte zivile Todesopfer” seien zu beklagen. Der Nichtregierungsorganisation Airwars liegen – noch nicht komplett überprüfte – Berichte über deutlich mehr als 1.200 zivile Todesopfer in den vergangenen zwei Monaten vor.
Der Direktor der Organisation äußert, die aktuellen „Rohdaten“ seien „vergleichbar mit der Zahl der Opfer durch russische Aktionen“ in Aleppo. Die russisch-syrischen Luftangriffe auf Aleppo hatten im Herbst Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU veranlasst, Sanktionen gegen Russland zu fordern. Ähnliche Äußerungen zur Schlacht um Mossul bleiben aus: Die dortigen Ziviltoten fallen den Luftangriffen nicht eines Gegners, sondern der engsten Verbündeten Deutschlands zum Opfer – und dies in Operationen, an denen die deutschen Streitkräfte mit Aufklärung, Luftbetankung und der Tätigkeit von Offizieren im Luftwaffenhauptquartier beteiligt sind.
Zahllose tote Zivilisten
„Hunderte zivile Todesopfer“ bei Luftangriffen der US-geführten Anti-IS-Koalition auf Mossul beklagt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Wie Amnesty in einem gestern veröffentlichten Bericht schreibt, sei in den vergangenen Monaten eine „schockierende“ Zunahme der Zahl toter Zivilisten zu verzeichnen gewesen, die meist in ihren Wohnungen Ziel alliierter Bombardements wurden. Dies deute nicht nur darauf hin, dass die Anti-IS-Koalition keine hinreichenden Vorkehrungen treffe, um Unbeteiligte zu schützen, urteilt Amnesty.
Darüber hinaus werfe die Tatsache, dass die Koalition vor Beginn der Schlacht die Bevölkerung ausdrücklich aufgefordert habe, während der Kämpfe in ihren Häusern zu bleiben, Fragen auf. In ihren Häusern sind die Einwohner der Stadt, denen von der Flucht abgeraten wurde, den Bombardements nun wehrlos ausgeliefert. Laut Zeugenberichten genügt zuweilen offenbar die Anwesenheit von einem oder zwei IS-Milizionären auf dem Dach eines Hauses, um einen Bombenangriff auszulösen – mit für die Bewohner tödlichen Folgen. Amnesty spricht von einem offenen Bruch internationalen Rechts.
Besonders hebt die Menschenrechtsorganisation einen Luftangriff vom 17. März hervor, bei dem „bis zu 150 Menschen durch einen Luftschlag der Koalition auf das Wohngebiet Jadida in West-Mossul getötet worden“ seien. Es handle sich um „einen der tödlichsten Angriffe in den vergangenen Jahren“.
Nicht nur in Mossul
Dramatisch steigende Opferzahlen vermeldet auch die Nichtregierungsorganisation Airwars, die die Ziviltoten bei Luftangriffen der Anti-IS-Koalition seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 möglichst präzise zu dokumentieren sucht. Airwars zufolge sind allein in den ersten Wochen des laufenden Monats „hunderte Zivilisten“ in Mossul getötet worden.
Zudem würden, schreibt die Organisation, auch in Raqqa immer mehr Unbeteiligte durch Angriffe der Koalition umgebracht – mindestens 147 allein in diesem Jahr, wahrscheinlich deutlich mehr. Seit dem 20. Januar, dem Tag, an dem US-Präsident Donald Trump sein Amt antrat, seien im gesamten Kriegsgebiet zwischen 1.214 und 1.859 zivile Tote gemeldet worden.
Allerdings müsse die Zahl noch überprüft werden; Airwars nimmt in die Statistik nur Angriffe auf, die von zumindest zwei unabhängigen Quellen bestätigt wurden – einer der Gründe dafür, dass die Ziffern der Organisation wohl deutlich zu niedrig angesetzt sind. Im Falle des Luftangriffs vom 17. März geht Airwars dabei nicht, wie Amnesty, von 150, sondern von mindestens 200 zivilen Todesopfern aus.
Die Ursachenfrage
Heiß diskutiert wird die Frage nach den Ursachen für den dramatischen Anstieg der Zahl ziviler Todesopfer. Beobachter weisen darauf hin, dass die Ziffern seit dem 20. Januar rapide in die Höhe schnellen; von Militärs ist zu hören, dass Luftunterstützung unter US-Präsident Donald Trump schneller gewährt werde – und dass man in der Praxis seit dem Amtswechsel in Washington generell auf eine großzügigere Auslegung der Regeln stoße.
Andererseits bestätigt Airwars, dass die zivilen Opferzahlen bereits unter Obama deutlich gestiegen sind und dass zudem die Kämpfe in West-Mossul unter erheblich schwierigeren Rahmenbedingungen stattfinden als in Ost-Mossul: Das Gebiet sei viel dichter bebaut; die Bevölkerung sei ärmer und daher weniger in der Lage, sich eine Chance zur Flucht zu erkaufen.
Hinzu kommen gewaltige Verluste der irakischen Armee, die laut Angaben der UNO bislang mehr als 6.500 Gefallene verzeichnen muss, laut Angaben aus der kurdischen Regionalregierung in Erbil sogar über die Hälfte der in Mossul eingesetzten Truppen durch Tod oder Verletzung verloren hat – und nun eher Luftunterstützung zu Hilfe ruft, um nicht vollends aufgerieben zu werden.
All dies nährt Zweifel daran, dass die Schuld an der immensen Zahl ziviler Opfer allein Trump und seiner martialischen Kriegsrhetorik in die Schuhe geschoben werden kann; womöglich sind sie in dem Beschluss, den IS per Krieg niederzuwerfen, bereits einkalkuliert gewesen.
“Vergleichbar mit Aleppo”
Mit Blick auf die Entwicklung ziehen Beobachter inzwischen offen Parallelen zur Schlacht um Aleppo, die unter Rahmenbedingungen stattfand, die noch am ehesten denjenigen in West-Mossul entsprechen. Zwar habe man zahlreiche Berichte bislang noch nicht überprüfen können, äußert der Direktor von Airwars, Chris Woods: Die bislang vorliegenden Zahlen seien aber „ein brauchbarer Indikator. Und diese ersten Rohdaten sind vergleichbar mit der Zahl der Opfer durch russische Aktionen“ in Aleppo.
Der deutsche Beitrag
Im Rahmen der Anti-IS-Koalition ist auch die Bundeswehr eng in die Kampfhandlungen involviert. Während andere die Bomben werfen, sorgt die Luftwaffe mit Luftbetankung und vor allem mit Aufklärungsflügen dafür, dass die Kriegsmaschinerie funktioniert. Darüber hinaus sind acht deutsche Offiziere im taktischen Luftwaffenhauptquartier der Anti-IS-Koalition (“Combined Air and Space Operations Center”, CAOC, Al Udeid/Qatar) in die Luftkriegsführung eingebunden und haben dort, wie die Bundeswehr berichtet, zumindest “Einblick in die Operationsführung”.
Ob die Angriffe, bei denen Zivilisten zu Tode kamen, etwa der Angriff vom 17. März, auch auf Daten beruhen, die von der deutschen Luftaufklärung zur Verfügung gestellt wurden, und ob sie durch deutsche Luftbetankung ermöglicht wurden, ist aufgrund der Geheimhaltungspraxis der Bundesregierung nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass der Krieg gegen den IS trotz der sich fatal zuspitzenden Lage mit einem wesentlichen deutschen Beitrag geführt wird.