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Echtes Wissen kommt von den Lebendigen

Ausgabe 295

plädoyer gelehrte
Foto: Napi Wan Ali, Shutterstock

Allah sagt in Seinem Edlen Qur’an: „Sprich: ‘Sind etwa diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, gleich?’“ (Az-Zumar, Sure 39, 9)

Und Er sagt: „Allah wird diejenigen in Rangstufen erheben, die Iman haben und denen Wissen gegeben wurde.“ (Al-Mudschadila, Sure 58, 11)

(iz). Das vorliegende Thema ist von größter Bedeutung für uns. Es ist ein Mittel, durch das wir unter unseren Mitmenschen erhoben werden. Es ist das Fundament, auf dem unser Leben geordnet und alle großen Zivilisationen errichtet werden. In diesem Zusammenhang ist es heute für uns von besonderer Wichtigkeit, wie es angeeignet wird. Oder auch, von wem es angeeignet wird.

Heutzutage sind beinahe alle großen Texte des Dins zugänglich. Es gibt computergestützte Bibliotheken, die alle wichtigen Tafsirwerke, Bücher über Hadithe und Verzeichnisse des Rechts ­beinhalten. Die Meinungen der Gelehrten dieser und aller vorangegangenen Gene­rationen sind aufgezeichnet und zusammengefasst worden. Längst können wir auf sie in der Bequemlichkeit unserer Wohnung zugreifen. Dafür müssen wir nicht einmal in Kontakt mit irgendeinem Menschen treten.

Niemals zuvor stand uns so viel so leicht zur Verfügung. Folgt daraus nicht, dass die heutigen Gelehrten die größten ‘Ulama aller Zeiten sind – mit dem umfassendsten und meisten Wissen? Das könnte man meinen. Es widerspricht aber den Worten des Gesandten Allahs, möge Allah ihm Frieden geben und ihn segnen. Er wies darauf hin, dass sich das Wissen über die Zeit vermindern wird. Das größte Wissen hat es demnach in seiner Generation gegeben, gefolgt von der nächsten sowie der übernächsten.

Imam Adh-Dhahabi, der mehr als 700 Jahre später lebte, sagte dazu: „Den ‘Ulama wurde nur geringe Kenntnis gegeben. Und heute ist nur ein kleiner Teil dieses wenigen Wissens übrig. Und nur eine nicht nennenswerte Gruppe von Menschen hat daran Anteil. Und nur ein Bruchteil von ihnen handelt nach dieser geringen Kenntnis. Allah ist genug für uns und er ist der beste ­Beschützer.“ In seinen Tagen waren die großen Hadithwerke bereits zusammengestellt. Viele Bücher standen dem zur Verfügung, der nach ihnen suchte. ­Offenkundig stellten sie als solche noch kein Wissen dar.

Das heißt, es gibt einen großen Unterschied zwischen Wissen und Information. Sie waren und sind niemals die selbe Sache. Wissen kann nur von Menschen bezogen werden. Das gilt für jede Wissenschaft und jegliche Kenntnis. Niemand kann erwarten, nur durch die Lektüre von Medizinbüchern zum Arzt zu werden. Und kein Kämpfer kann auf große Meisterschaft in den Kampfkünsten hoffen, solange er sich nur Informationen über Karate und Kung-Fu anliest. Wir brauchen einen Lehrer.

Aber nicht irgendeinen, sondern jeman­den, der von anderen Wissenden genom­men hat. Jemand, der von Praktizierenden einer Kunst gelehrt und erzogen wurde. Eine Person der Erfahrung, die gelebt hat, was sie predigt oder lehrt. Das gilt überall, aber ganz besonders im Bereich des Fiqh; der Wissenschaft über den Gehorsam gegenüber unserem Herrn und der Vermeidung Seiner Verbote. Denn an ihm hängt unser langfristiges Wohlergehen.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „O, die ihr Iman habt, lernt. Denn Wissen kommt vom Lernen. Und Fiqh (Verständnis) erwächst aus der Suche nach dem Verstehen. Will Allah Gutes für eine Person, dann gibt er Ihr Verständnis (Fiqh) im Din.“ Damit es Ta’allum und Tafaqquh geben kann, brauchen wir Ta’lim und Tafqih. In anderen Worten, Lehre. Direkte Übertragung von einem Menschen zum nächsten. Der Gebrauch dieser Worte in dem Hadith bestätigt diese Implikation erheblich.

Es gibt hierzu eine Reihe bekannter Aussagen, die unter den Salaf verbreitet waren und oft von ihnen zitiert wurden. Die erste von ihnen lautet: „Wer keinen Schaikh hat, dessen Schaikh ist Schaitan.“ Und die zweite: „Wenn dein Schaikh aus deinen Büchern besteht, dann wirst du häufiger irren als recht haben.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass Bücher an sich eine schlechte Sache sind, sondern eher, dass sie nur in Verbindung mit den Anweisungen eines Lehrers gebraucht werden sollten – insbesondere, wenn es um das Recht geht.

Sie sind Werkzeuge, kein Wissen. Schwarze Tinte auf weißem Papier. Diejenigen, die ihren Din ausschließlich in ihnen suchen, sehen die Dinge auch nur schwarz und weiß. Ihr Din ist rigide und unbeweglich, nicht organisch und lebendig. Der Din basierte und basiert immer auf dem Vorbild. Wir handeln so, wie wir es bei anderen beobachten können. Unsere Lehrer zeigen uns die Dinge nicht nur mit ihren Worten, ­sondern auch durch ihre Handlungen.

Schauen wir auf die Definition von Sunna. Sie wird beschrieben als die Worte, Handlungen, Zustände, die physische Erscheinung und die Taqrir des Gesandten Allahs. Taqrir bezieht sich auf das, was in seiner Gegenwart von anderen getan wurde und das er nicht ablehnenswert fand. Seine Gefährten lernten auf all diesen Wegen von ihm – nicht nur von seinen Worten. Sie lernten von seinem Vorbild, und die Nachfolgegeneration nahm von ihrem. Das ging so weiter bis zum heutigen Tage. Jede Generation lernt von der vorherigen. Die Überlieferungskette (Isnad) ist nicht auf die Hadithwissenschaft begrenzt. Sie gilt in jeder Wissenschaft.

Wir nehmen von Leuten, können sie nicht umgehen, um direkt zur Quelle zu gelangen. Denn die Überlieferung vom Ursprung ist mehr als die Worte, in der sie niedergeschrieben wurde. ­Würden wir unseren Din ausschließlich auf Hadithbüchern aufbauen, schüfen wir eine Religion, die kein Muslim vor uns jemals praktiziert hätte. Sie stellen nicht die Grundlage für Fiqh oder Urteile dar. Dafür gibt es die Wissenschaft des Fiqh.

Mehr noch, der direkte Zugriff auf sie für Urteile ohne die (oder selbst mit ihnen) notwendigen Werkzeuge der Unterscheidung ist eine große Gefahr für unseren Din. ‘Abdallah ibn Wahb, einer der größten Schüler von Imam Malik und ein großer Hadithgelehrter als solcher, sagte: „Hätte Allah mich nicht durch Malik und Al-Laith gerettet, wäre ich in die Irre gegangen.“ Er wurde gefragt, warum das so sei und Ibn Wahb entgegnete: „Ich lernte so viele Hadithe, dass sie anfingen mich zu verwirren. Also trug ich sie Malik und Al-Laith vor und sie sagten mir, was ich nehmen und was ignorieren sollte.“ Ein weiterer der großen Gelehrten unter den Salaf, Sufjan Ibn Ujaina, und Zeitgenosse von Imam Malik, sagte: „Hadithe sind eine Quelle der Irreführung, außer für die Fuqaha.“ Und Ibrahim An-Nakha’i, aus der Generation nach den Nachfolgern, meinte hierzu: „Hätte ich die Gefährten dabei beobachtet, die Arme bei der Gebetswaschung nur bis zu den Handgelenken zu waschen, wäre ich ihnen darin gefolgt. Und das, obwohl ich (im Qur’an) ‘bis zu den Ellbogen’ las.“

Das soll keine Herabwürdigung der Hadithe sein. Sie sind eine wunderschöne Quelle und eine Aufzeichnung über viele Aspekte im Leben des Gesandten Allahs. Ihre Lektüre bedeutet eine Zunahme der Liebe zu und des Wissens von unserem Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Wir können aber unseren Din nicht direkt von ihnen oder jedem anderen Buch nehmen. Es gilt zu erinnern, dass der Din lebendig und dynamisch ist. Was Al-Madina die Qualität von Al-Munawwara, der Erleuchteten, verlieh, waren ihre Menschen und die Leben, die sie führten. Je mehr wir diese Menschen umgehen und direkt zur Quelle wollen, desto mehr entfernen wir uns von ihr.

Ein konkreter Anlass für diesen Text ist das Verrichten von zwei Gebetseinheiten (Rakats). Sie sind stark empfohlen, wenn eine Person die Moschee betritt, solange sie gewisse Vorbedingungen erfüllt. Dazu gehört ihr Zustand der rituellen Reinheit und die Absicht, dort sitzen zu bleiben. Zu Meinungsver­schiedenheiten kommt es, wenn es um unbeliebte und verbotene Zeiten geht – wie jene zwischen Nachmittag und Abend oder während der Freitagsansprache. ­Einige glauben, das Grüßen der Moschee ist von diesem Verbot ausgenommen und zitierten den berühmten Hadith von Sulaik Al-Ghatafani, der von Dschabir ibn Abdallah überliefert wurde: „Sulaik Al-Ghatafani kam in die Moschee zum Freitagsgebet und sah den Gesandten Allahs im Minbar sitzen. Er setzte sich dann ohne Gebet nieder. Also fragte ihn der Prophet: ‘Hast Du zwei Rakats gebetet?’ Er entgegnete: ‘Nein.’ Daher wies ihn der Gesandte Allahs an: ‘Steh auf und bete sie.’“

Der Hadith scheint recht ausdrücklich zu sein. Und doch handelten Imam Malik und Imam Abu Hanifa nicht ­danach. Noch taten dies die große Mehrheit der Prophetengefährten, die Rechtgeleiteten Kalifen oder die große Mehrheit der Salaf. Das verweist darauf, dass es entweder aufgehoben wurde oder im spezifischen Kontext von Sulaik stattfand.

Bestimmte moderne Gelehrte missach­ten das jedoch. Sie glauben daran, dass ein Sahih-Hadith alles andere schlägt. Ein solcher meint: „Vielleicht hat Malik niemals von dieser Sunna gehört, denn es ist überliefert, dass er das Gebet während der Khutba untersagte. Aber wenn diese Sunna vom Gesandten Allahs sahih ist, dann darf sich niemand dagegen aufgrund des Wortes irgendeines Mannes wenden.“ Mit anderen Worten, dieser Mann sagt, dass wegen seines Zugangs zu diesem Hadith, den Malik vielleicht nicht gehabt haben könnte, die Nachfolger des Imams verpflichtet seien, seiner Meinung zu folgen. Diese Art modernen Gelehrtentums ist atemberaubend arrogant und erstaunlich in ihrem Grad der Hypothese.

Erstens gibt es keinen Beweis dafür oder Hinweis darauf, dass Malik nichts von dem Hadith wusste. Folgende Worte wurden von einigen Männern der Tabi’in über bestimmte Hadithe weitergegeben: „Wir kennen sie, aber die Leute haben nicht nach ihnen gehandelt.“ Und das traf selbst auf Hadithe zu, die von ihnen überliefert wurden. Wir dürfen niemals vergessen, dass Imam Malik ein Hadith­gelehrter und ein Faqih war. Wegen seines großen Respektes sorgte er sich um die Bewahrung der prophetischen Worte. Auch dann, wenn sie kein Bestandteil dessen waren, wonach gehandelt wurde.

Ibn Al-Madschischun, einer der großen frühen Gelehrten nach Malik, antwortete auf die Frage, warum er manchmal überlieferte Hadithe nicht befolgte: „Damit die Leute genau wissen, dass wir Wissen von ihnen hatten, als wir nicht nach ihnen handelten.“

Zweitens gibt es keine Chance, dass ein einzelner Hadith ein stärkerer Beweis ist als der ‘Amal der Leute von Medina. Dabei handelt es sich um die fortgesetzte Praxis der Leute des Wissens in dieser Stadt. Imam Malik lernte bei mehr als 900 Gelehrten der zweiten Nachfolgergeneration. Er war einer der größten Hadithgelehrten und lernte enorme Mengen an Hadithen auswendig. Und doch meinen einige, er sei in Unkenntnis von etwas Grundlegendem in Verbindung mit dem Freitagsgebet – der öffentlichsten Handlung der Anbetung überhaupt? Besser wäre es zu sagen, dass er, wie seine Schüler und viele ‘Ulama seiner Schule, die verschiedenen Argumente kannte. Für ihn war das Verbot aber stärker, da es auf den Handlungen der rechtgeleiteten ersten, frühen Generation beruhte.

Und ebenso auf der Tatsache, dass die Khutba am Freitag den Platz von zwei Gebetseinheiten des Mittagsgebetes einnimmt. Niemand kann gleichzeitig beten und zuhören. Und niemand würde zum Mittagsgebet in eine Moschee kommen, während der Imam das Gemeinschaftsgebet bereits führt, und trotzdem erst einmal die zwei Rakats beten. Der stärkste Beweis und die geschützte Praxis wurden von den Gelehrten jeder Generation ­bewahrt – unabhängig der Rechtsschule. Sie sind es, von denen wir unser Wissen nehmen müssen. Wir sollten uns nicht von denen beeindrucken lassen, die Qur’anverse und Hadithe anführen und gleichzeitig das Vorbild und die Praxis ihrer Lehrer und Schaikhs nicht beachten.