Der Schlüssel zur Tür oder: Szenen, die bleiben

Ausgabe 202

(iz). Der Frühling scheint das im Winter doch so eingefrorene Herz der Menschen aufzutauen – langsam, aber sicher. Ich wandere durch die Straßen Berlins und zaghaft, ganz zaghaft, macht sich hier und da ein leises Lächeln breit. Die Sonne kitzelt es einfach heraus, so wie sie die Krokusse aus der Erde kitzelt. Es ist einfach nicht möglich zu widerstehen. Auch ich muss lächeln. Ja, es ist zurück. Endlich!
Wieder einmal – wie so oft in dieser Stadt – sitze ich der U-Bahn, schaue vor mich hin. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau mit schüchternem Blick. Ein Bettler kommt herein, sagt seinen Spruch auf, will die Straßen­zeitung in seiner Hand verkaufen, bittet uns um eine milde Gabe, läuft routiniert durch den Wagon. Sie sind doch da zuhauf – sie haben sich an uns gewöhnt und wir an sie. Wir geben eigentlich nie. Nur manchmal, ganz selten sehe ich die eine oder andere Hand in die Tasche und wieder hinaus gleiten, mit ein paar hervor gewühlten Münzen, die man dem Bettler gelangweilt in seinen dreckigen ­Plastik-Kaffeebecher schnipst, ehe man sich wieder in seine „Bild“ oder „Zeit“ vertieft.
Aber diese Frau macht das anders. Er nähert sich, sie wühlt noch ihrer Tasche herum, gibt ihm die Münzen. Er hält ihr sein Straßenma­gazin hin, fragend: Möchten Sie eins kaufen? Aber sie schüttelt den Kopf. Und dann, dann lächelt sie, nein, sie strahlt ihn an, diesen Bettler. Und sie freut sich und er freut sich und dankt und geht. Und dann, dann ist sie vorbei, diese Szene in der U-Bahn, die ­irgendwie anders ist als andere. Die bleibt.
Kurz darauf passiert es wieder. Da ist die Obdachlose, die mich schon so lange durch meine U-Bahn-Fahrten begleitet. Sie wirkt besonders selbstbewusst, tönt mit ihrer lauten und auf gewisse Weise sympathischen ­Stimme seit vielen Monaten durch die Bahn. Aber dieses Mal, dieses Mal kommt sie herein, schüttelt den Kopf, sagt verwirrt: „Na so was, das ist ja verrückt!“ Und dann dreht sie sich zu dem jungen Schüler, schaut ihn an und fragt ihn: „Na, wie geht’s, alles klar? Ach, das Leben ist doch verrückt…“ Und der ­Schüler? Er schaut einen Moment, einen klitzekleinen Moment verdutzt, aber dann sagt er: „Gut geht’s mir.“ Und sie reden ein bisschen über dies und jenes, und dann lächelt er entspannt, und sie lächelt entspannt, und er steckt ihr ein paar Münzen zu, und sie geht dankend ihren Weg. Nein, das, das habe ich noch nie gesehen – eine Obdachlose und ein junger Schüler, die einen klitzekleinen Moment zu Freunden werden. Wieder eine Szene, die bleibt.
Und heute erst warte ich auf die U-Bahn. Da sitzt ein Rollstuhlfahrer, ich mustere ihn. Graue, teils rot gefärbte Haare, viele viele Holzketten um den Hals, ein Wollpulli, und dann seine knochigen, ein wenig ­verkrusteten Beine, von einem gestreiften Nachthemd zum Teil bedeckt. Er hält eine Bierflasche in der Hand, sein Blick ist klar. Er rollt hinüber zur Frau mit der Biotüte in der Hand. Sie ­wartet auf die Bahn, wie ich. Er fragt sie: „Wissen Sie, wer ich bin?“ Sie schüttelt den Kopf, fragt ihn zögernd: „Sollte ich das denn wissen“ Er sagt: „Ja, ich bin prominent“. Und dann unter­halten sie sich und kommen ins Gespräch. Die Frau nähert sich ihm. Sie verliert ihre Angst, und schließlich, als die Bahn kommt, schiebt sie ihn hinein, lächelnd, und er dankt, und sie geht. Wann sieht man so etwas schon? Auch das eine Szene, die bleibt. „Was ist es, das die Trennung zwischen den Menschen aufheben kann?“, frage ich mich. All dies sind Menschen am Rande der Gesell­schaft – meist arm, dreckig, oft süchtig. Und auf der anderen Seite Menschen in der ­Mitte der Gesellschaft – wohlhabend, satt, verwöhnt und ängstlich vor dem Rand. Und plötzlich ist es ihnen gelungen, die Hürde für einen kleinen Moment zu überwinden und dahin durchzudringen, wohin sie nur sehr selten durchdringen können – ins Herz der Menschen.
Es scheint, sie haben den Schlüssel zur Tür gefunden, schließen sie auf, stoßen sie auf, schauen kurz hinein, sehen, wie das Licht in Strahlen durch die Fenster des dunklen, verlassenen Zimmers scheint, ehe die Tür wieder langsam knarzend zufällt. Ja, und dann ist sie wieder verschlossen, und der Schlüssel wurde irgendwo vergessen, und wenn die Sonne ins Zimmer scheint, weiß niemand davon außer man selbst. Und wenn sie nicht scheint, weiß das auch niemand.
Aber jetzt ist Frühling, und die Sonne strahlt, und jeder weiß es. Warum sollte man also nicht die Tür ein wenig öffnen? Ich lächle. Das ist ein Gleichnis, das bleibt.