Interview mit dem Extremismusforscher Thomas Mücke über Radikalisierung, Stereotypen und Prävention

Berlin (KNA). „Pourquoi?“, stand am Wochenende auf einem Schild inmitten eines Blumenmeers in Paris. Die Frage, warum junge Menschen zu Terroristen werden, treibt die Gesellschaft nach solchen Bluttaten immer wieder um. Extremismusforscher Thomas Mücke geht ihr nach – und sucht nach Auswegen. Der 57-Jährige leitet die Berliner Beratungsstelle „Kompass“ und ist Geschäftsführer des „Violence Prevention Network“. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur erklärt er, was Prävention leisten kann und warum es Vorbilder aus den Religionsgruppen braucht.

Frage: Gibt es nach den Terroranschlägen am Freitag bereits verstärktes Interesse an Ihren Präventionsangeboten?

Thomas Thomas Mücke: Rund 14 Tage vor den Anschlägen ist die Zahl von Beratungsfällen gestiegen. Seit Beginn der militärischen Beteiligung Russlands gegen die Terrormiliz des Islamischen Staats haben sich mehr Eltern gemeldet, deren Kinder ausreisen wollten. Der IS wurde militärisch etwas in die Enge getrieben, und gab den Druck an die Sympathisanten weiter: Jetzt müsst ihr aktiv werden.

Frage: Wie haben Sie auf diese Beobachtung reagiert?

Thomas Mücke: Wir sind auf solche Situationen eingestellt. Wir versuchen, die Eltern schnell zu informieren und bei konkreten Ausreiseplänen dafür zu sorgen, dass diese Ausreise nicht stattfindet.

Frage: Müsste noch mehr geschehen?

Thomas Mücke: Insgesamt tut Deutschland im Präventionsbereich deutlich mehr als noch vor einem Jahr. Es gibt ein Programm des Bundesfamilienministeriums, viele Länder haben ebenfalls mit Programmen begonnen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland gut aufgestellt. Dadurch können wir in Notsituationen handeln. Sicherlich brauchen wir noch mehr Berater – die muss man aber erst einmal finden. Die Zeit vorher wurde in der Tat verschlafen.

Frage: Was müssen Berater mitbringen?

Thomas Mücke: Hilfreich ist es, wenn die betreffenden Personen sich schon in einem vergleichbaren Bereich engagiert haben. Die extremistische Szene hat eine sehr jugendgemäße Ansprache, also sollten auch Berater wissen, wie sie junge Menschen ansprechen können und deren Konfliktsituationen kennen. Zudem müssen sie fähig sein, dorthin zu gehen, wo diese Jugendlichen sind. Die kommen nicht von sich aus in ein Beratungsbüro.

Frage: Welche Rolle spielt die Religion?

Thomas Mücke: Die Berater brauchen intensives theologisches Wissen. Wir erleben beispielsweise häufig Diskussionen über Denkverbote. Im Koran gibt es eine frühe Offenbarung, laut der nicht nur das Handeln eine Sünde ist, sondern auch das Nachdenken über bestimmte Handlungen. Diese Offenbarung wird in einer späteren wieder aufgehoben – das weiß der Normalbürger aber nicht. Solche tiefen Fragen bewegen junge Menschen. Auch eine muslimische Verwurzelung der Mitarbeiter kann ein Türöffner sein.

Frage: Was können Eltern oder Lehrer tun, die erste Anzeichen für eine Radikalisierung zu bemerken glauben?

Thomas Mücke: Äußere Anzeichen sind schwierig zu beurteilen. Eltern spüren aber schnell, wenn ihr Kind sich verändert: Frühere soziale Kontakte gehen verloren, das Kind spricht anders, steckt in einem Schwarz-Weiß-Denken fest; vielleicht bewegt es sich verstärkt auf bestimmten Internetseiten. Wenn Eltern eine solche Entfremdung beobachten, sollten sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Auch wenn sich herausstellt, dass das Kind nicht zum Extremisten geworden ist, kann ein Beratungsgespräch Klarheit schaffen und beruhigend wirken.

Frage: Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie?

Thomas Mücke: Leider gibt es manchmal keinerlei Erkennungszeichen, weil die Szene junge Menschen darauf einstellt, sich nicht zu erkennen zu geben. Ich würde mir zudem wünschen, dass mehr Gleichaltrige etwas sagen, wenn sie sich um ihre früheren Freunde sorgen. Manchmal bemerken sie eine Veränderung schneller als die Eltern.

Frage: Macht man es sich mit dem Bild des „typischen“ Islamisten – jung, männlich, perspektivlos – zu leicht?

Thomas Mücke: Von diesem Bild würde ich mich verabschieden. Diese Szene befriedigt emotionale Bedürfnisse von Jugendlichen: Gemeinschaft, Geborgenheit, Halt in Krisensituationen. Wer von Gleichaltrigen angesprochen wird, kann sich davon überzeugen lassen – auch, wenn er aus einer intakten Familie kommt. Betroffene Eltern sollten sich nicht schämen müssen, sondern Hilfe erhalten.