Ein Kommentar von Sulaiman Wilms

Ausgabe 201

(iz). Es gibt nichts Ärgerlicheres als die mentale Reiz-Reaktions-Schemata, die eine Begegnung oder ein Gespräch erschweren. Oft machen sie diese sogar ganz unmöglich.

Um diese Erfahrung zu belegen, schlage ich folgendes Experiment vor: Nehmen Sie ­einen guten Text aus einer Quelle, die in ihrem Zirkel als inakzeptabel gilt (beispielsweise einer der wortgewaltigen „Islamkritiker“), und verlin­ken sie ihn auf ihrer Facebook-Seite. Sie werden sehen, wie schnell die Alarmglocken losgehen und wie verärgert ihre Facebook-“Freunde“ reagieren. Sie glauben mir nicht? Ein Freund von mir platzierte einen – tatsächlich – klugen Artikel zur Causa ­Christian Wulff von Henryk M. Broder. Der virtuelle Wutanfall ließ nicht lange auf sich warten.

Das jüngste und wichtige Beispiel dieser Denkbremse präsentierten uns nun ausgerechnet muslimische Stimmen, die sich in die – absolut notwendige – Debatte um den neuen Präsidentenaspiranten Joachim Gauck [siehe Aufmacher der aktuellen IZ-Ausgabe] einschalteten. Es gibt gute Gründe, eine Kandidatur des Alt-Bürgerrechtlers abzulehnen und gute Gründe, warum der „Demokratielehrer“ eher spaltend, als versöhnend wirkt. Beispielsweise, weil er zu dem Monstrum einer „marktkonformen Demokratie“ schweigt.

Jede notwendige Kritik verliert aber an ihrer argumentativer Stärke, wird auf, aus dem Zusammenhang gerissene Zitatfetzen (oft genug hundertfach auf Facebook oder in online-Foren reproduziert) zurückgegriffen. ­Dadurch entsteht der fälschliche Eindruck, Gauck sei ein Wiedergänger Thilo Sarrazins. Gelegentlich drängt sich sogar der Verdacht auf, dass das verlinkte Material noch nicht einmal gelesen wird.

So wurde ein Videoclip als Beweis für eine vermeintliche Affinität Gaucks zu Sarrazin angeführt. Darin feierte er aber nicht den misanthropen Banker, sondern spricht von real erfahrener Fremdheit zwischen Alt- und Neubürgern in Westeuropa. Trifft man als europäischer Muslim auf ethnisch homogene Gemeinschaften, ist diese Fremdheit durchaus erfahrbar und kein fremdenfeindliches Ressentiment. Vor Jahren fragte mich ein Jugendlicher in Bochum, was ich in seiner Moschee zu suchen habe, gehöre ich doch nicht seiner ethnischen Gruppe an.

Elektronische Medien wirken verkürzend auf unser Denken und unsere Kommunikations­fähigkeit. Daher sind wir zu mehr Medienkompetenz aufgerufen. Imam Al-Ghazali riet uns, dass wir nur mit notwendigem Wissen überhaupt debattieren dürfen.