Wer aber über den ­Kapitalismus schweigt

Ausgabe 203

(iz). Während des diesjährigen Gründonnerstags versammelten sich Mitglieder der Ralph-Giordano-Stiftung (äh… Giordano-Bruno-Stiftung) vor dem Münchener Kreisverwaltungs­referat. Als Teil einer bundesweiten Aktion waren Slogans wie „Sei schlau, verlass den Kirchenbau“ zu lesen. Organisierte Religions­lose finde ich lustig. Gehört es nicht zu ihren Fundamenten, dass sie eigentlich keine (Pseudo-)Kirche brauchen?
Die religionskritische Organisation („Evolu­tionäre Humanisten“ in der Selbstdefinition) nutzte die beginnenden Osterfeiertage, um Menschen zum Kirchenaustritt zu ­animieren. „Nach dem Kirchenaustritt werden Sie ein Gefühl der Befreiung empfinden, wie viele Ausgetretene vor Ihnen. Wir freuen uns, ­dieses Ereignis mit Ihnen feiern zu können“, hieß es in dem Aufruf zur „Kirchenaustrittskampagne 2012“.
Eigentlich gibt es keinen triftigen Grund, sich mit dem ideologisierten Atheismus der ­Bruno-Gang länger als nötig zu befassen. Ist er doch nicht viel mehr als ein modernisierter Abklatsch aus dem 19. Jahrhundert. Wobei der kontrafaktische Wahn, die Religionen und ihre Anhänger seien für alle historischen Übel verantwortlich, nach den Erfahrungen des blutigen 20. Jahrhunderts eigentlich nicht haltbar sein dürfte. Aber, wer sich so häufig und unsouverän, im Brustton der moralischen Überlegenheit über Religionen (allen voran, den Islam) aufregt, muss an die Aussage Max Horkheimers „wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ erinnert werden. Die Religionskritik der Bruno­ianer wäre intellektuell wesentlich ernstzuneh­mender, wenn sie sich auch mit der dominan­ten Religion unserer Tage, dem Kapitalismus, abrechnen würde.
Seit dem deutschen Philosophen Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor den ­Nazis das Leben nahm, wissen wir, dass der Kapita­lismus bereits wegen seiner Erscheinungsform wegen als Religion eingestuft werden kann; inklusive Priesterkaste (Banker), ­Kathedralen (Banken), Schuld (Schulden) und Sühne (Rückzahlung). Wer einmal das Ritual aus Beichte und Buße bei einem Besuch seines Kreditberater durchleiden musste, dürfte das nachvollziehen können.
Aber diese Form der „Aufklärung“, die die Augen vor dem wirklich inhumanen ­Drama unserer Zeit verschließt, ist im besten Fall unaufrichtig. Im schlimmsten Fall ist sie eine ­Stütze der herrschenden Verhältnisse.