Ein Pionier des Brückenbaus: Über Goethes zeitlosen Umgang mit den Religionen

Ausgabe 224

(iz). Es ist eine illustre Runde in Weimar. Rund um den ergrauten Dichterfürsten sind adlige Damen, Kaufleute und kluge Köpfe versammelt. Bei der ungewöhnlichen Vorle­sung im Frühjahr 1815, zu der man sich bei der Herzogin Louise zusammengefunden hat, irritiert das Publikum eine unbekannte Sprache. Im Grunde ist es ein Skandal: Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Islamfeindlichkeit in Europa liest ein deutscher Dichter am Hof persi­sche und arabische Gedichte vor und zitiert sogar aus dem Buch der Bücher, dem Koran. Das kann nur ein Mann mit einer zeitlebens unangreifbaren Autorität: Goethe.

Der Dichter sieht in seiner offenen Runde weder nur ein geistiges Experiment, noch eine rein schöngeistige Annäherung an die Weltliteratur, sondern ihm geht es bei seinem Projekt darum, sein Publikum über die inneren Tiefen des Islam aufzuklären. Goethe folgt auch im Umgang mit der umstrittenen Weltreligion instinktiv seinem pädagogischen Leitgedanken: „Wenn man eine Sache verstehen will, muss man sie lieben.“

Neben seinem seherischen Umgang mit der Schaffung von Technik und Finanztechnik, die er im zweiten Teil ­seiner Faust-Dichtung atemberaubend aktuell aufbereitete, weist Goethe damit auf das weitere große Thema seiner und unserer Zeit hin: die Rolle der Religionen.

Goethe teilt grundsätzlich die determi­nistische Grundüberzeugung aller Buchreligionen, die besagt, dass alle Gläubigen durch das Schicksal verbunden sind, aber er weiß natürlich auch, wie es in Schillers „Dreißigjährigem Krieg“ beschrieben ist, dass religiöser Fanatismus die Dynamik von Bürgerkriegen ins Maßlose befeuern kann. Es ist insofern die „grosse Wirksamkeit” des Koran, die Goethe in den „Noten und Abhandlungen” zu einem durchaus modernen Fazit gelangen lässt: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.“

Goethes Einsicht klingt zeitlos, ­gerade jetzt, wo der gesamte arabische Raum in eine Neuauflage des dreißigjährigen Krieges abdriften könnte, die alten Tradi­tionen des Zusammenlebens zwischen Juden, Christen und Muslimen sich aufzulösen drohen und ideologisch verblen­dete Kämpfer ihr Unheil verbreiten. Aber auch hierzulande scheint eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Islam schwieriger zu werden, auch, weil eine sachliche Debatte durch allgemeine Probleme der Integration, Fanatiker auf allen Seiten und zudem einige Unkenntnis erschwert wird.

Die große Debatte der letzen Jahre, die der ehemalige Bundespräsident Wullf angestoßen hatte, ob denn, neben der Tatsache einiger Millionen Muslime im Lande, darunter viele deutsche Muslime, auch der Islam selbst zu Deutschland gehöre, möge man dabei zunächst als akademische Frage getrost offen lassen. Sicher dürfte aber sein, dass der Dichterfürst aus Weimar zweifellos zu unserem Land gehört und damit auch eine Tradi­tion eines ganz anderen, verstehenden Umgang mit anderen Lebenspraktiken.

Für Goethe ist die Beschäftigung mit dem Islam nichts anderes als die „eigene Frage als Gestalt“. Was ihn an der ­Lehre des letzten Propheten besonders faszinierte, hat er 1827 gegenüber Eckermann, so beschrieben: „Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Massstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.“

Damit bietet Goethe ein Erkenntnisverfahren im Umgang mit der Religion an, dass eben nicht auf einer negativen Dialektik gegen den anderen Glauben beruht, sondern vielmehr auf Austausch, Studium und konstruktiver Selbstreflektion. Die Tendenz, eigene Identität durch die Ablehnung des „Feindes“ zu gewinnen, ganz nach dem Motto „wir sind gut, weil sie böse sind“, bleibt dem Dichter dabei ganz fremd.

Statt an das ideologische aufgeheizte Gegeneinander, erinnert Goethe so ­lieber an das Verwandtschaftsverhältnis aller Religionen, einfacher gesagt an den bana­len Sachverhalt, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände, ruht im Frieden seiner Hände“ schreibt Goethe in seinem zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfassten Meisterwerk „Der West-östliche Divan“.

Das heute beinahe legendäre Buch, dass zur Zeit Goethes nur begrenzten Erfolg hatte – es brauchte 100 Jahre um die Erstausgabe zu verkaufen – gilt heute als das wichtige Symbol eines wünschenswerten Dialoges der Religionen. Als ein Markenzeichen wird der Titel als Motiv von zahllosen Konferenzen und Symposien gewählt und ist sogar ­Namensgeber eines arabisch-jüdischen Orchesters.

„Goethe ist derjenige, der bereits vor 200 Jahren ein Forum für diesen ­Dialog zu schaffen suchte“ fasste Dr. Manfred Osten die Grundabsicht des Dichters des Divan im Januar 2013 auf seiner Rede in Weimar zusammen. Seine Absicht sei es gewesen, so Osten, die eurozentristische Gesellschaft seiner Zeit in eine des Erlernens anderer Kulturen zu verwandeln. Für Goethe, der 1832 verstarb, war die Literatur der islamischen Welt im 19. Jahrhundert so ein Gegengewicht zu den „engstirnigen, chauvinistischen Tendenzen, wie sie im Deutschland des 19. Jahrhunderts vorherrschten“.

Wer Goethes Islam-Begeisterung im Detail besser verstehen will, kommt bis heute nicht an der Grande Dame der Goetheforschung, Katharina Mommsen, vorbei. Schon 1988 veröffentlichte die in den USA lebende Gelehrte mit ­ihrem Sachbuch „Goethe und die arabische Welt“ das einmalige Standardwerk über diesen Aspekt der Forschung. Auf über 600 Seiten und mit unzählige Zitaten und Quellenhinweisen beweist Mommsen zweifellos, dass Goethes Annäherungen an den Islam nicht etwa nur eine kurze Episode waren.

Ein wichtiger Teil ihres Buches über die Rolle des Islam in seinem Denken widmet Mommsen dabei auch dem vielgerühmten „West-östlichen Divan“. Es wird schnell klar, wenn man dieses Kapitel liest, dass Goethes facettenreiche Einsichten über den Monotheismus, den Determinismus oder das Christentum bis heute einige Sprengkraft bergen.

Insbesondere die Klarstellung Goethes aber, dass er Jesus als Propheten einstuft, nicht aber als Sohn Gottes, klingt wie für Muslime geschrieben. Mit mehreren Zitaten belegt Mommsen das aktive Enga­gement Goethes zur Verteidigung eines reinen Monotheismus, seine Sympathie für eine Einheitslehre, die man denken kann. Die Distanz zum Christentum ­äußert sich dann auch in seiner testamentarischen Verfügung, zu Lebzeiten keinerlei christliche Symbolik, also auch ­keinen Pfarrer, an seinem eigenen Grab zuzulassen.

Für manch einen mag das berühmte Bekenntnis Goethes, dass er 1816 ableg­te, „er lehne den Verdacht nicht ab, selbst ein Muselmann zu sein“ dann in diesem Kontext wie eine Provokation klingen. Da Goethe aber weder Philosophie, Natur noch Religion als starre „Systeme“ denken wollte, muss man hier natürlich immer den Wegcharakter des Goetheschen Denkens im Hinterkopf behalten.

Wie soll man nun also, unter Beachtung dieser Maxime, das Werk, soweit es die Religionen betrifft, an sich und das Verhältnis Goethes zum Islam überhaupt einordnen, zumal, die ungeheure Breite und bloße Zahl der Aussagen des Mannes einige Interpretationsmöglichkeiten zulassen?

Es ist sicher zutreffend, dass Goethe noch stärker als in seiner Jugend, in ­seinen späten Jahren alle in Orthodoxie erstarrten oder dogmatischen, eingeengten religiösen Vorstellungen ablehnte. Genauso sicher ist, dass Goethe, der muslimischen Soldaten in Weimar ­interessiert beim Gebet zuschaute, auch gar nicht alle Elemente klar sein konnten, die zur islamischen Lebenspraxis dazugehören. Viele Teile der islamischen Wissenschaf­ten, insbesondere solche, die über die innere Glaubenslehre hinausgehen, ­waren ihm nicht bekannt. Das islamische Wirtschaftsrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, hätte ihn als Ökonom wohl interessiert, erklärt hat es ihm in seiner Zeit natürlich niemand.

Auf der anderen Seite wird bei näherer Beschäftigung deutlich, dass das isla­mische Glaubensbekenntnis, mit dem der Islam ja seinem Wesen nach beginnt, von Goethe durchaus inhaltlich nachvollzogen und dem Grunde nach bestätigt wurde. Ob er vielleicht, könnte man anmerken, eine Art Vorläufer „liberaler“ Muslime war, die den Islam im Inneren bejahen, aber eben nach Gutdünken und mit unterschiedlichen Begründungen nicht oder nur zum Teil praktizieren?

Liest man in der vielbeachteten Goethe-Biographie Safranskis die Passagen über den Divan, dann spürt man die Neigung des kritischen Philosophen, die Nähe Goethes zum Islam eher spöttisch herunterzuspielen. Safranski kann die Annäherung Goethes auch deswegen nicht mehr einfach verstehen, da er sein eigenes, dominantes Bild vom Islam allein aus dem Blickwinkel der Moderne gewinnt und im Islam, in gewisser Verarmung, nur noch eine äußere, ideologi­sche Gesetzesreligion erkennen kann.