Ein subjektiver Versuch, ob sich im Pop tiefere Einsichten finden lassen

Ausgabe 238

„Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst, den nicht die Eintracht süßer Töne rührt, taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken; die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht, sein Trachten düster wie der Erebus.“ (Shakespeare)

„Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur, Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr.“ (Schiller)

(iz). Wer kennt sie nicht, die freundlich gemeinten Ratschläge, die in der Regel mangels Möglichkeit zur Umsetzung auf Renitenz stoßen. Seit Kindesbeinen bekommen wir Zumutungen zu hören wie „nun freu Dich doch mal!“ (bei eher unpassenden Geschenken), „sei spontan!“ (wenn man sich in peinlicher Umgebung nicht zum Narren machen will) oder „entspann Dich!“ (wenn die Lage alles andere als locker ist).

Allen Situationen ist gemein, dass sie einen Aufforderungscharakter haben, der trotz Druck von außen nicht mit dem inneren Zustand des Angesprochenen korrespondiert. Im schweren Fall führt dergleichen zu gewohnheitsmäßiger Heuchelei, will man doch dauerhaft den Erwartungen anderer im sozialen Raum entsprechen.

Grundelement der menschlichen Existenz
Nur wenige Dinge haben die innere Potenz, solche Änderungen spontan und organisch herbeizuführen. Eines davon ist Musik, deren Einfluss auf die Zustände von Gemüt und Seele bei muslimischen Ärzten lange bekannt war und deshalb zur Anwendung kam. Ein Beispiel dafür ist eine Tradition des marokkanischen Sufismus, Lehrgedichte zum Lobpreis Allahs, zur Feier des Propheten und zur Vermittlung lebenswichtiger Inhalte zu Harmonien und Melodien zu singen, die in sich bereits einen positiven Einfluss haben.

Andererseits wird klar (paradox, angesichts einer enormen Musiktradition in allen muslimischen Zivilisationen), warum Teile der muslimischen Welt, und auch der Lehre, beim Thema „Musik“ sehr skeptisch sind. Kann sie doch recht prägnant auf den Menschen wirken. Gefürchtet wird wohl auch die Kraft der „erlaubten“ Ekstase und Freisetzung enormer sozialer Energien durch Musik.

Ohne das ewigee „Musik ist ‘haram’, Akhi!“ ernst- beziehungsweise aufzunehmen, kann die Frage gestellt werden, ob mit „Musik“, die verboten sei, jede Form des Notenspiels gemeint ist. Hier wäre eine verstehende Erläuterung nötig, welcher Gegenstand eigentlich behandelt wird. Denn zwischen den spirituellen Traditionen der osmanischen Mevlevis, der europäischen Symphonik und Rihanna liegen offenkundig Welten. Das eine ist für das Herz, das andere für den Geist und letzteres wohl für den Unterleib.

Egal, ob wir wollen oder nicht, Musik ist ein Element von Fitra (arab. für die Ursprünglichkeit des Menschen). Kaum eine Gruppe, die nicht komplett entwurzelt ist, hat diese (und den Tanz) nicht auf die eine oder andere Weise entwickelt. In manchen, beispielsweise nomadischen, muslimischen Kulturen war Musik eine Notwendigkeit, um auf dem Rücken von Pferden die Grundlagen des Dins in Form von Liedern weiterzugeben.

Muzak – die Kunst der Langeweile
„Kein Regen, kein Schnee, keine Sonne, kein Wind. Alles grau, schwül und stickig, die Fensterscheiben staubblind (…) Langeweile ist ausgebrochen in der Stadt, kommt angekrochen und sie hat keine Eile“ (Hannes Wader)

Das soll keine Wiederholung der oberlehrerhaften Unterscheidung von E- (ernst=gut) und U-Musik (unterhaltsam, irgendwie ein No-Go) sein. Ginge es darum, hätte erstere eh verloren. Und wir vergessen zumeist, dass die Kompositionen der klassischen Musik damals nicht allein im aseptischen Raum einer vermeintlichen „Hochkultur“ zu hören waren. Aber es stimmt schon, es steht, beim Anblick von Hitlisten und der unausweichlichen Beschallung des Alltags insgesamt, nicht gut um den „Pop“. Seit Langem schon hat er (wie auch seine „Alternativen“) kaum noch die Fähigkeit zur Reflexion oder zur Freisetzung blockierter Energien.

Das Lallen aus den Charts kann im besten Fall als Behübschung der herrschenden Verhältnisse (als Klingelton und Fahrstuhlmusik) herhalten. Im schlimmsten Fall ist es akustische Körperverletzung – durch Musik und Text. Was sagt es künstlerisch über den „Kampf gegen Rechts“, wenn S. Connor und H. Grönemeyer dabei auftreten dürfen? Manchmal wünscht man sich die Alltagsweisheit eines kleinen, gallischen Dorfes, das seinen Barden bei wichtigen Anlässen geknebelt an den Baum band.

Hier auf das muslimische Segment als Hoffnungsträger zu setzen, ist trotz aller Rede von Multikulti wohl sehr optimistisch. Was uns, international ein Renner, als „muslimische Popkultur“ verkauft wird, kann oft nur als religiös korrekte Variante von Muzak gedeutet werden. Zumeist handelt es sich dabei nur um die Entkleidung des massenkompatiblen Gedudels und seiner Befüllung mit „islamischen“ Inhalten.

Als ob Hiphop besser wäre, wenn der MC nicht 50 Cent hieße, sondern einen arabischen Vornamen hätte. Es ist tragikkomisch, wenn manche von einem „dschihadistischen Hiphop“ sprechen; einer der westlichsten „Kunstformen“ überhaupt. Aber auch, wenn es sich nicht um Snoop Dodoo Cuspert handelt, haben junge Muslime als Publikum sich in der Breite wohl weder für die höchsten Traditionen aus den Herkunftsländern ihrer Großeltern entschieden, noch dürften ihnen entsprechende westliche Musikformen vertraut sein. Das soll selbstredend kein Vorwurf sein, leidet doch die musische Förderung an Schulen und in den Massenmedien seit jeher unter sträflicher Missachtung.

Morrisey und der Nihilismus
„You shut your mouth. How can you say. I go about things the wrong way? I am Human and I need to be loved. Just like everybody else does. When you say it’s gonna happen ‘now’. Well, when exactly do you mean? See I’ve already waited too long and all my hope is gone.“ (The Smiths)

Und doch finden sich inmitten dieser vertonten Form des Nichts widerstandsfähige Pflanzen, die entweder auf Sinnhaftigkeit verweisen, oder doch zumindest ihr Fehlen beklagen. Vergessen wir schnell Etikettierungen des Marktes wie „Alternative“ oder „Indie“, sie lenken nur ab, oder sind – im schlimmsten Fall – selbst Teil des Branding. Denn es handelt sich bei den Interessanten um alles andere als Randfiguren, sondern um Künstler, die seit Jahren oder Jahrzehnten eine ­große Anhängerschaft haben.

Führend bei der musikalischen Beschreibung eines Leidens an der Zeit ist Morrissey, ehemaliger Sänger und Texter der legendären britischen Gruppe „The Smiths“, welche die zur Idiotie zerbröselte Rock-Musik durch Sound und Texte durcheinanderbrachte und kein gutes Haar an der Infamie einer Thatcher ließ. Seit fast 30 Jahren pflegt der charismatische Sänger eine Solo-Karriere, gibt ausgebuchte Konzerne am laufenden Band und hat sich eine Schar Zuhörer gesichert, die mit ihm altern. Und das in Würde.

In England wurde er nicht ohne Grund als der dritteinflussreichste Texter aller Zeiten gekürt. Meinungsstark und sehr oft umstritten sind seine Texte, in Kombination mit der Musik, keine Dekoration. Gerade in neueren Stücken wird man mit existenziellen Grundfragen konfrontiert. Der Sänger gibt keine Antworten, bietet keinen schnellen Trost.

Realist Marteria
„Randale und Krawall, die Zeiten sind längst vorbei. Wo sind meine Leute hin, die waren früher überall. Was all die anderen starten, sieht wie ´ne Landung aus. Und die Welt sie dreht sich weiter, nur nicht mehr ganz so laut.“ (Marteria)

Viel näher an der Heimat macht sich der Rostocker Marteria seinen Reim auf die Zeit. Nach einer Karriere als Profifußballer und Schauspielschüler ist er längst als MC etabliert. Offiziell firmiert er als „Rapper“, aber mir scheint, er hat sich für den Sprechgesang entschieden, weil er halt einfach nicht singen kann.

Als Marteria (und im Alter Ego Marsimoto) macht der reflektierende Künstler Marten Laciny deutlich, dass er nicht bereit ist, jeden Zirkus mitzumachen. Wie der Track „Bengalische Tiger“ auf dem überzeugenden Album „Zum Glück in die Zukunft II“ zeigt, hat er nicht die Absicht, die üblichen Erwartungen zu erfüllen. In seinen Texten, die immer unerwarteten Tiefgang bieten, gibt uns der Sprechsänger keine Lösung des Welträtsels, aber doch einen Tiefgang, den der Alltag vieler zumeist vermissen lässt.

Ekstase bei Jack White
„Wo soll ich mich hinwenden in dieser schlechten Zeit. An allen Orten und Enden ist nichts als Hass und Streit.“ (Hannes Wader)

Wohin nun soll sich der wenden, der nicht in der Beschreibung der Dinge verharren will? Wo findet sich in der Welt der Töne die Lichtung, in der die Wirklichkeit und das Leben hell erscheinen? Die Antwort (auch das totale Desinteresse an Musik) muss jeder für sich finden. Zumal es auch nicht um die Schaffung neuer, pseudo-religiöser Gewissheiten geht, sondern um die Suche nach einer Sprache der Seele und einer Belebung des Herzens.

In Zeiten, in denen Vernunft selbst unzugänglicher wird, und es keinen „Dialog“ gibt, der diesen Namen verdienen würde, fehlen Elemente, die das Herz beleben. Woher sollen die „wilden Lebensimpulse“ kommen, wie Schaikh Dr. Abdalqadir As-Sufi in einem Text über Ägypten schreibt, die das Herz wie bei einem Patienten mit Herzinfarkt wieder zum Schlagen bringen können? Woher soll die Energie kommen, um sich gegen das Nichts zu behaupten und um überhaupt erst wieder Allah kontemplieren zu können?

Der Gelehrte verweist in dem Fall auf den Blues, der den Sklaven und ihren Nachkommen geholfen habe, ihre Verzweiflung zu überwinden. Wie kaum ein anderer spielt der Musiker Jack White auf der Klaviatur des Blues und flechtet Elemente aus Country oder Indie in seine Musik ein. Trotz seiner vielfältigen Ausflüge in diverse Genres, speist sich Whites Musik in erheblichem Maß eben aus jenem Blues. Und dieser ist, hier schließt sich ein Kreis, seinerseits mehrfach mit dem afrikanisch-andalusischen Erbe des Westens verbunden.