Ein uraltes Vorurteil

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Bonn (KNA). Antisemitismus: Das ist aus Sicht von Michael Blume der allumfassende Verschwörungsmythos. Dessen Anhänger bedienten sich nicht erst in Zeiten von Facebook, Twitter und Co der neuen Medien – sondern auch schon, als der Buchdruck und später Radio und Film aufkamen. Das sind einige Aspekte, die der Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg in seinem neuen Buch „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern“ aufgreift. Auf die Frage im Titel antwortet Blume, dass sich Antisemitismus eben nicht nur gegen Juden richte, sondern jeden treffen könne.

Aus Sicht Blumes bedroht er auch Antisemiten jeglicher Couleur selbst und deren Nachfahren: „Jedes Volk, jede Kultur und jede Religion, in denen Verschwörungsmythen die Wahrnehmungen und Debatten prägen, verurteilt sich selbst zu Ignoranz, Gewalt und Armut.“ Und Antisemitismus erscheint bei ihm als eine Art steter Kampf: In der Logik der Vertreter könne es „kein versöhntes Mit- oder Nebeneinander von Verschiedenen“ geben. Immer wieder müssten stattdessen neue Mitverschwörer „identifiziert, beschuldigt und vernichtet“ werden.

Blume schreibt, dass schon Ägypter, Römer und Griechen, die an mehrere Götter glaubten, Juden Verschwörungen vorgeworfen und Kampagnen zur zwangsweisen Assimilation oder Vernichtung gegen sie angezettelt hätten. Von dort sei Antisemitismus in das Christentum, den Islam und weitere Religionen und Weltanschauungen gelangt, bis er heutzutage „zur global dominierenden Form des Verschwörungsglaubens“ geworden – und besonders gefährlich zusammen mit Rassismus sei.

Von Verschwörungstheorien will Blume nicht sprechen, sondern von -mythen. Ihnen sei mit rationalen Argumenten kaum beizukommen. Wie so etwas konkret aussehen kann, veranschaulicht der Autor mit Hilfe von kursierenden Verschwörungspyramiden in unterschiedlichen Sprachen, an deren Spitze Juden, manchmal im Verbund mit Freimaurern, stehen – als vermeintliche Lenker von Gesellschaften oder Staaten. Antisemitismus zögen sich auch nichtjüdische Staatslenker zu, weil sie „heimlich“ Juden oder angeblich von ihnen beeinflusst seien.

Semiten sind keine Rasse, wie Blume betont. Er verweist auf den biblischen Sem, einen Sohn Noahs, als mythologischen Vorfahren. Dieser habe als erster ein Lehrhaus gegründet und werde als erster Schriftgelehrter angesehen, „der Religion und Recht im Medium der Alphabetschrift vermittelte“. Jeder Mensch, egal welcher Herkunft, der zum Judentum übertrat, habe durch das Erlernen und Einüben von Alphabetschriften und Traditionen „mythologisch ein Kind von Abraham und Sem“ werden können.

Sem symbolisiert Blume zufolge „das zentrale Erfolgsrezept“ des Judentums: „Von nun an waren nicht mehr Tempel, sondern Schriften die bedeutendsten Träger der Lehren.“ In zerstörerischen Zeiten habe das Judentum durch seine Kinder und Schulen überlebt. Dies wiederum sähen Antisemiten als bedrohliche Verschwörung an. Über jeweils neue Medien wie Buchdruck, Radio und Internet entfalte der Antisemitismus seine Kraft, und genau dort müsse er auch entschieden bekämpft werden.

Der menschenverachtende Antisemitismus sei nicht deswegen so global ausgearbeitet worden, weil Juden bessere oder schlechtere Menschen gewesen seien, so Blume. Sondern weil sie die „Alphabetisierung von Religion und Recht und damit die Grundlagen unserer längst globalen Zivilisation“ in die Welt gebracht hätten.

Der Antisemitismus als destruktive und auch selbstzerstörerische Kraft, die immer nur Niedergang erblickt und nichts von Dauer aufbaut – im Gegensatz dazu der Semitismus, der trotz Problemen mit Neugier und Hoffnung „neue Welten des Fortschritts“ sieht: Diese Deutung Blumes kann der Leser nach etlichen religions- und gesellschaftswissenschaftlichen Herleitungen nachvollziehen. Und auch, wenn Blume schreibt, dass die Zukunft nicht durch menschliche „Rassen“ und „Märchen angeblich heiler Vergangenheiten“ bestimmt werde – stattdessen sei sie offen für die, die lesen und schaffen.

Michael Blume, „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern“, Patmos, 2019, 208 Seiten, ISBN: 978-3-8436-1123-7, 19,00 Euro.