Eine Buchkritik von Sulaiman Wilms
Tamim Ansary scheitert an der Geschichte
(iz). Geschichte ist faszinierend. Für alle offenbart ein Blick auf sie weit mehr als nur eine zweckfreie Erkenntnis, sondern – wenn man daran glaubt – auch Erkenntnis des menschlichen Schicksals. Wie sehr Geschichte in die menschliche Existenz eingebunden ist, belegt der Göttliche Ratschlag im Qur’an, die Stätten unserer Vorfahren zu besuchen. Darüber hinaus ist ein erheblicher Teil der Offenbarung bereits den Geschichten (arab. Qasas) der Propheten und früherer Völker gewidmet.
Das Schreiben von Geschichte vermittelt auch ein Verständnis der Gegenwart. Denn sie bietet – im Idealfall – nicht nur Wissen über diese, sondern auch über die herrschende Weltanschauung. Wer ein Buch über die Geschichte schreibt, spricht nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über seine eigene Zeit. Und anhand der sich wiederholenden grundlegenden menschlichen Situationen und Herausforderungen kann eine Kenntnis der Geschichte auch Verständnis zeitnaher Entwicklungen erleichtern. Im negativen Fall bedeutet ihre Unkenntnis Gefahr für die Zukunft.
Legt man diese Messlatte an das 2010 bei Campus erschienene Buch „Die unbekannte Mitte der Welt“ von Tamim Ansary an, muss eingeräumt werden, dass der Autor sie verfehlt. In der – laut Einband – „Globalgeschichte aus islamischer Sicht“ scheitert er an seiner Universalgeschichte der muslimischen Welt.
Der Autor bemüht sich in guter Absicht, die Weltgeschichte aus der Perspektive des „mittleren Königreichs“ zu erzählen und einige ideologische Missverständnisse der letzten zehn Jahre zu korrigieren. Das allerdings gelingt ihm nur selten, sodass man sich am Ende fragen muss: Warum habe ich dieses Buch eigentlich gelesen? Denn neue Einsichten wollen sich partout nicht einstellen.
Wie auch schon bei der Debatte um den Islam in Deutschland wird hier deutlich, dass eine bloß ethnische Herkunft kein Ersatz für Fachkenntnis sein kann oder ist. Der Essayist und Schriftsteller bewegt sich mit „Die unbekannte Mitte der Welt“ erkennbar auf ungewohntem Terrain und verliert bereits zu Anfang des Buches seine Orientierung.
Ansary kann die muslimische Geschichte aus drei Gründen nicht be-greifen: Fehlende Sachkenntnis und mangelnder Überblick, kontraproduktive Subjektivität und die Abwesenheit einer umfassenden Geschichtsphilosophie.
Ärgerlich muss der Leser des Buches zur Kenntnis nehmen, dass es dem Autor leider an Quellenkenntnis fehlt. So unterlaufen ihm Fehler wie die Zuordnung des frühmedinensischen Gelehrten Imam Malik als „Marokkaner“. Ein Blick auf die beigefügten Literaturverweise belegt, dass sich Ansary kaum mit den grundlegenden anerkannten Quellenwerken des Islam selbst vertraut gemacht hat, sondern sich auf zeitgenössische Werke über die muslimische Geschichte verlässt. Kein solider Historiker würde so vorgehen.
Ärgerlich wird es in seiner Beschreibung bedeutender muslimischer Gestalten, bei der sich der Autor auf seine eigene Meinung verlässt, anstatt historische Quellen für sich sprechen zu lassen. Insbesondere wichtige Gestalten in der Frühzeit werden beinahe schon diffamierend beschrieben.
Entscheidend ist aber, dass sich Tamim Ansary nicht im geringsten um eine eigenständige Philosophie der Geschichte bemüht, sondern sich der konventionellen Sicht anschließt. Sein Mantra vom „Verfall“ ignoriert die dem Islam innewohnende Erkenntnis vom Entstehen, Aufblühen und Niedergang bestehender Kulturen, wie sie allen voran von Ibn Khaldun formuliert wurde. Wer die eigene Geschichtsphilosophie des Islams nicht kennt, sollte keine „Globalgeschichte aus islamischer Sicht“ schreiben. (Sulaiman Wilms)
Tamim Ansary
Die unbekannte Mitte der Welt
Campus 2010
ISBN 978-3-593-38837-3
ucom
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