Eine Reduzierung der göttlichen Botschaft

Ausgabe 303

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(iz). Seit einigen Wochen hat sich die bundesdeutsche Islamdebatte insbesondere auf das Phänomen des „politischen Islam“ fokussiert. Neben anderen Aspekten geht es dabei zusätzlich um die Rolle und den Einfluss politischer Ideologien auf das Islamverständnis einzelner Muslime oder ihrer Gemeinschaften. Auf der anderen Seite scheint bei manchen, international vernetzten KritikerInnen immer wieder die Verschwörungstheorie durch, Islam sei tatsächlich keine offenbarte Religion, sondern eine politische Ideologie.

Für die „Islamische Zeitung“ ist das kein neues Thema. Schon seit Ende der 1990er Jahre bemühen wir uns um einen kritischen Blick auf spezifische Ideologien in der muslimischen Welt und welche Folgen sie für das tradierte Islamverständnis sowie die konkreten Bedingungen von MuslimInnen hatten. Einige klassisch gebildete Gelehrte haben sich in den letzten 20 Jahren hierzu zu Wort gemeldet. Anbei zeichnen wir einige Gedanken von ihnen nach.

Das Wort „Ideologie“ leitet sich aus einem französischen Begriff ab, der in der revolutionären Periode aufkam. Damit war eine neue Denkweise gemeint, die nicht mit Metaphysik, Religion oder Tradition beladen war. Napoleon bezog sich herabwürdigend auf die Vertreter einer Ideologie als „Ideologen“. Während es eine neutrale Bedeutung haben kann, würden die meisten das Wort als negativ betrachten. „Islam ist Wahji, eine Offenbarung von Gott und keine Ideologie“, schrieb Schaikh Hamza Yusuf eindeutig in einem Debattenbeitrag zum Thema.

Es gebe im klassischen Arabischen, so Yusuf, nicht einmal einen Begriff, der die Bedeutung von „Ideologie“ in sich tragen würde. „Es findet sich nicht in Ibn ­Manzurs maßgeblichem Wörterbuch des klassischen Arabisch, Lisan al-Arab, und mit Sicherheit nirgendwo im Qur’an oder in den Hadithen. Weder die Salaf noch die Gelehrten der letzten 1.300 Jahre des Islam benutzten den Begriff.“ Diese ­Terminologie ist das Ergebnis der unglückseligen Hochzeit von Konzepten der europäischen Moderne mit muslimischen Gesellschaften im Moment ihres Niedergangs.

Da die Araber nicht einmal ein Wort dafür gehabt hätten, sagt Schaikh Hamza Yusuf, mussten sie eines erfinden, um dieses Konzept ausdrücken zu können. „Suchen wir nach „Ideologie“ in einem modernen arabischen Wörterbuch, dann stoßen wir auf ‘Idiolodschijjah’. Versuchen wir, das Wort ins klassische Arabisch zu übertragen, dann wäre ‘mandhur fikri’ eine ziemliche Annäherung. ‘Fikr’ ist keine Eigenschaft Allahs. ‘Mufakkir’ ist keiner der 99 Namen Allahs und anders als ‘tafakkur’, dem im Qur’an eine positive Bedeutung zugeschrieben wird, hat „fikr“ auch einen negativen Unterton: ‘Er hat ja nachgedacht und abgewogen. Tod ihm, wie er abgewogen hat!’ (Al-Muddattir, 18-19).“

„Islam ist eine der weltgrößten Religionen. Als solche beschäftigt sie sich mit den Hauptfragen, die den Diskurs in ­jedem Glauben dominieren. Dazu ­gehörten die Erkenntnis des Göttlichen, seine Anbetung und der Gehorsam ihm gegenüber – in Erwartung jenseitiger Belohnungen und der Abwehr von Bestrafung“, sagt Imam Zaid Shakir zur Frage, ob Islam eine Ideologie sei.

Im Zentrum dieser Themen stehe die tiefe Sorge um die Errettung des Menschen. Der Islam teile diese religiösen ­Bedenken, die Allah im Qur’an erwähne: „Jede Seele wird den Tod kosten. Und erst am Tag der Auferstehung wird euch euer Lohn in vollem Maß zukommen. Wer dann dem (Höllen)feuer entrückt und in den (Paradies)garten eingelassen wird, der hat fürwahr einen Erfolg erzielt. Und das diesseitige Leben ist nur trügerischer Genuss.“ (Al-i-’Imran, Sure 3, 185)

Für Shakir ist die politische Lesart der Quellentexte Teil einer Tendenz, Islam auf eine politische Ideologie zu reduzieren. Für ihn habe das schwerwiegende Folgen. Die vielleicht schlimmste sei die Abwendung des Hauptfokus des Dins vom Geist beziehungsweise der Seele auf die diesseitige Welt. „Dadurch wird das Verständnis des Heiligen auf das Niveau des Mondänen erniedrigt.“ Eine Reflexion der Natur von Ideologien mache klar, dass Muslime sich dieser Neuausrichtung widersetzen müssten.

„Die wesentliche Domäne des Handelns und Denkens ist für den Ideologen das Politische (…). Dessen Beschränkungen markieren den Punkt, an dem sich Islam von Ideologie von Weltanschauungen unterscheidet“, schrieb Zaid Shakir in einem wesentlichen Text von 2006. Er sieht in Allahs Din einen Gegen­entwurf, denn Ziel sei nicht nur die Sorge um die politischen Umstände des Menschen, sondern vielmehr dessen spirituelle. „Im Herzen des islamischen Rufes befindet sich ein normatives Programm für geistige Rettung.“ Das Politische werde nicht geleugnet, aber habe den ­Regeln des Spirituellen zu folgen und dessen Grenzen anzuerkennen.

Darüber hinaus seien Ideologien ebenfalls vom Nützlichkeitsdenken geprägt. Die vertretenen Lehren seien genau durch ihre Zweckmäßigkeit geprägt wie durch ihre Prinzipien. Nur wenige würden sich weit von der machiavellistischen Maxime entfernen, wonach der Zweck die Mittel rechtfertige. Werde Islam auf eine Weltanschauung reduziert, dann sei es unausweichlich, so Shakir, dass er auf die ­Domäne politischer Zweckmäßigkeit ­zurückgestuft werde. „Was immer die ­politische Sache voranzutreiben scheint, wird als ‘islamisch’ angesehen. (…) wie Selbstmordattentate, Massaker an Zivilisten, Ermordung anderer Muslime, Zerstörung der öffentlichen Ordnung sowie andere Taktiken, die mit der Ideologie und Praxis des ‘Islamischen Dschihad’ in Verbindung gebracht wurden.“ Die strikt politische Lesart des Qur’an treibe eine solche Zweckmäßigkeit voran. „Die Auswirkungen auf das Verständnis und Handeln sind ihrerseits tiefgreifend. Ereignisse, deren Entfaltung auf das Ende der Zeit beschränkt ist, wird so eine Unmittelbarkeit zugewiesen, die ihre Anwendbarkeit hier und jetzt einfordert.“

Der englische Gelehrte und Autor ­Abdal Hakim Murad beschreibt diese Weltanschauungen in seiner neuen Aufsatzsammlung „Travelling Home“ als ­radikalen Bruch mit der muslimischen Vergangenheit. Vielmehr kämen hier ­revolutionäre und konterrevolutionäre Strategien der Gewalt und des Terrors zur Schaffung einer Utopie zum Einsatz. In Anlehnung an den deutschen Essayisten beschreibt Murad existente Ideo­logien als „ein Symptom der Krankheit, für deren Lösung“ sie sich halten ­würden.

Für Imam Zaid Shakir drohe diese beschriebene Reduzierung von Islam auf eine Weltanschauung, die Bestimmungen und Prinzipien spezifischen politischen Forderungen zu unterwerfen. Diese hätten ihrerseits nur wenig mit den islamischen Lehren gemein. Wenn dies geschehe, droht „ein Verlust der sozialen Fundamente unserer Religion“.