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Einfalt in Vielfalt

Ausgabe 290

Foto: Rawpixels.com | Freepiks.com

Wir alle kennen den beliebten Traum, den gefühlt alle Kinder und Teenager unserer Zeit haben: das Influencer-Dasein. „Mach dein Hobby zum Beruf“ – so lautet der Slogan, und es hört sich durchaus vielversprechend an. Dafür braucht man nichts weiter als einen interessanten und außergewöhnlichen Lifestyle, den man stets zu optimieren versucht, und damit verbunden vor allem Eines: Likes. Likes sind die neue globale Währung, an der man sich messen und orientieren kann. Nicht nur die Popularität und der Erfolg lassen sich anhand der Anzahl von Likes berechnen, sondern auch die eigene Vermarktung. Es geht dabei immer um die Bestätigung von außen. Wir konstituieren uns folglich im Blick der Anderen gemäß dem Motto „Ich bin das, was die anderen sehen.“ Wir versuchen uns in unserer ­bestmöglichen optimierten Version darzustellen und glauben oft selbst an das Bild von uns, das wir zeichnen.

Das Bedürfnis nach ­Anerkennung
Forscher haben sogar festgestellt, dass Likes auf Menschen wie ein Rauschmittel wirken können und denselben Bereich im Gehirn aktivieren, der auch durch das Empfinden von Freude an Geld, Sex und Essen angekurbelt wird. Auf den ersten Blick erkennt man, dass dies offen­sichtliche Mittel zur Befriedigung von basalen menschlichen Bedürfnissen sind. Zugleich werden diese Bedürfnisse jedoch von der Like-Kultur zusätzlich befördert, die Triebstruktur rund um die Uhr neu angeheizt. Schon das sollte uns zu denken geben. Mitnichten haben wir in der Onlinewelt alles unter Kontrolle, in vielen Kontexten ist es vielmehr diese, die uns unter Kontrolle hat.

Likes können das natürliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Bestätigung ansprechen und damit verbunden den Bedarf an Zugehörigkeit und Gemeinschaft bedienen. Inwieweit diese Bedürfnisse letztlich wirklich befriedigt werden können, ist damit noch nicht gesagt. Auf jeden Fall vermag jedoch der Anschein einer „Anerkennungsgemeinschaft“ eine gewisse Bedürftigkeit seitens der Like-Empfänger anzusprechen. Nicht ohne Grund ist in sozialen Netzwerken oft von „Community“ die Rede. So ist eine Social-Media-Strategie von Influ­encern etwa das Community-Building: Der Influencer muss seine Zielgruppe kennen und sein (nach außen hin präsentiertes) Leben nach den Wünschen dieser Zielgruppe ausrichten, Kommentare beantworten und ihnen das Gefühl einer reziproken Freundschaft geben.

Der Trend des Influencertums wirkt durch alle Gesellschaftsgruppen hinweg, und es ist nicht verwunderlich, dass auch wir Muslime als Zeitgenossen davon nicht ausgenommen sind. Mittlerweile hat sich ein regelrechter Typus des muslimischen Influencers entwickelt, die unzähligen Hijabi-Blogger sind inzwischen geradezu legendär. Dem Konsumenten scheint hier beispielhaft präsentiert zu werden, wie es möglich ist, in der heutigen Zeit zugleich religiös und modern zu sein. Auf einmal ist das Kopftuch nicht mehr Symbol einer überholten Frömmigkeit, sondern regelrecht Ausweis eines Lifestyles am Puls der Zeit.

Ausstellung des Privaten
Warum aber sind Influencer, ob nun muslimisch oder nichtmuslimisch, so erfolgreich? Was ist ihr Geheimnis? Die Stärke sozialer Netzwerke ist vor allem die theoretische Chance, selbst Teil dieses Lifestyles sein zu können. Die Influencer scheinen Menschen wie wir zu sein – keine Beyoncé, der man nicht das Wasser reichen kann, kein Ronaldo, dessen fußballerisches Können wir nur erträumen können, kein Johnny Depp, dessen Schauspielkunst wir nicht zu erreichen vermögen. Sie scheinen nicht abgehoben und unerreichbar zu sein, sondern nahbar und alltagsecht. Der Lifestyle, den sie zeigen, könnte durchaus unser eigener sein: Reisen als Backpacker, um 6 Uhr aufstehen und ein Buch lesen, mit einer gesunden Porridge-Bowl den Tag beginnen oder einen schicken H&M-Pullover erstehen. Sie inspirieren uns mit ihrem Health-Lifestyle und gewähren einen Einblick in ihre Privatsphäre, die uns durch die Innenanschauung unseres eigenen privaten Lebensalltags Vertrautheit suggeriert. Schließlich haben wir alle eine Privatsphäre. Der Kosmos der Influencer ist keine glanzvolle Celebrity-Welt, und gerade deswegen können wir unter­bewusst leicht in ihn hineinschlüpfen.

Dies ist auch ein zentraler Aspekt, der uns an Vlogs fasziniert. Wir schauen Menschen bei ihren banalsten Routinebeschäftigungen zu: wie sie ihren Alltag bestreiten, wann sie shoppen und kochen, was sie lesen und anziehen, auf welche Art sie ihre Beziehungen pflegen oder womit sie zur Arbeit fahren. Dies gibt uns nicht nur ein seltsames Gefühl von Befriedigung und Unterhaltung – schließlich pflegen wir all diese Dinge für gewöhnlich auch zu tun oder könnten es theoretisch –, sondern auch ein Gefühl der Macht über deren heilige Privatsphäre. Und als heilig galt der private Bereich bis vor kurzem ja tatsächlich den meisten Kulturen der Welt. Nicht zuletzt in unserer muslimischen Weltsicht spielt die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre eine bedeutende Rolle, ganz praktisch, was etwa Kleidungsvorschriften betrifft, aber auch ­spirituell-metaphysisch in Hinblick auf den zyklischen Wechsel zwischen kontemplativem Rückzug und aktiver Tätigkeit in der Welt. Die zeitgenössische Ausstellung des Privaten in der Welt der Influencer führt nun dazu, dass wir der Meinung sind, alles kommentieren und beurteilen zu dürfen, weil wir eine Art Zuständigkeit über diese Privatsphäre beanspruchen, gemäß dem Motto „Wenn du mich daran teilhaben lässt, musst du auch mit meiner Meinung rechnen“. Aber steht uns das überhaupt zu? Und steht es uns gut an? Ferner: Als Zuschauer können wir uns mit den transparent gemachten Menschen identifizieren oder uns abgrenzen, uns vergleichen, weil sie vergleichbar wirken. Aber tut uns der Vergleich in dieser Dimension spiri­tuell gut? Es könnte sein, dass wir uns am Ende, auch wenn wir sie nicht sozialmedial ausstellen, in unserer eigenen Privatsphäre, in der heimischen Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit von der ganzen Welt beobachtet fühlen. Schlicht, weil wir sie im Vergleich mit allen anderen gedanklich entblößen. Wir fühlen uns gesehen, und zwar nicht etwa von Gott, sondern vom imaginierten Panoptikum der amorphen Öffentlichkeit.

Die ökonomische ­Vergleichbarmachung
In seinem Buch „Das metrische Wir“ beschreibt der Soziologe Steffen Mau, dass das Sich-mit-anderen-Vergleichen etwas Natürliches ist, obschon wir uns nur mit denjenigen vergleichen, die einen ähnlichen Lifestyle haben wie wir. Kein gewöhnlicher Student würde auf die Idee kommen, sich mit einem Hawking zu vergleichen, wohl aber mit einem anderen Studenten, der ähnliche Interessen hat und in vergleichbaren Lebensverhältnissen steht, also mit einem, der theoretisch auch „ich“ hätte sein können. Übertragen auf die Welt der Influencer bedeutet das: Wir vergleichen uns mit Influencern, weil wir uns stärker mit ihnen identifizieren können. Die kapitalistische Werbeindustrie hat das Potential dieses Marktes erkannt und für sich zu nutzen gelernt: Mehr Likes bedeuten mehr Einfluss, mehr Einfluss bedeutet mehr potentielle Kunden und damit verbunden mehr Geld. Obwohl wir alle diesen Kreislauf kennen, unterstützen wir ihn, weil wir uns für die Influencer, mit denen wir uns identifizieren und die wir liebgewonnen haben, freuen und sie auf ihrem Weg begleiten möchten.

Einfalt in Vielfalt
Ein weiterer bedenkenswerter Aspekt ist die Tatsache, dass sich der Beruf des Influencers gerade im individualistischen Zeitalter der (Post-)Modernisierung und des damit verbundenen Übergangs von der Fremd- zur Selbstbestimmung etablieren konnte. Auf den ersten Blick erscheint es logisch: Jeder Influencer stellt seinen eigenen, individuellen Lifestyle aus, und je exklusiver ein Profil ist, desto mehr Aufmerksamkeit kann generiert werden. Wenn wir uns allerdings diese Welt der Youtuber und Instagrammer anschauen, sehen wir keinen Pluralismus in den Lifestyles, sondern uniforme Lebensgewohnheiten, die sich in ähnlichen Produkten, Verhaltensweisen und Trends widerspiegeln. Wie jede Kultur, so bringt auch die der Influencer notwendig ihre kollektiven Normen und Gewohnheiten hervor – eine Einsicht, die die muslimische Gelehrsamkeit schon seit Jahrhunderten unter den Begriffen ‘Urf (Sitte)  und ‘Ada (Gewohnheit) verhandelt. Die wenigsten Menschen können jenseits einer milieuspezifischen kulturellen Einfärbung leben. Nicht erst auf Instagram ist unikale Individualität eine weitgehende Illusion. Am Ende streben doch wieder alle einem gemeinsamen Mittelmaß zu. Die vermeintliche Individualität und Selbstbestimmung der Influencer, die diese in ihren persönlichen Lifestyles ausdrücken wollen, ist denn auch in Wahrheit meist vor allem bestimmt von Sponsoren (etwa in dem gezielten Platzieren von bestimmten Produkten oder der Dokumentierung gesponserter Reisen). In ihrer Heterogenität sind die Lebensentwürfe also letztlich gleich und zirkulieren um dieselben Trends. Die sozialen Medien sind gefüllt mit Profilen, die sich krampfhaft voneinander abheben wollen, dabei jedoch letztlich nichts Anderes tun, als gleichförmig nach Anerkennung in Form von quantifizierten Likes zu streben.

Dabei appelliert die große Mehrheit der Influencer an unsere einfachsten, oberflächlichsten menschlichen Triebe: Freizügigkeit, Sex, Klamotten, Essen und Körper. Mit dramatischen Videotiteln wird versucht, mehr Klicks zu generieren, um sich besser vermarkten zu können. Als Influencer verkauft man nicht nur seine Privatsphäre, sondern auch ein Stückweit seine Seele, da man primär nach den Wünschen der Zielgruppe und letztlich des Marktes lebt und stets um Bestätigung und Anerkennung kämpft: Gleich einem ferngesteuerten Roboter, der Befehle aus einem komplexen Computerprogramm erhält.

Die Öffentlichkeit wird zum Ersatzgott
Der postmoderne Mensch hat es verlernt, allein und er selbst zu sein. Beides kann man letztlich nicht in der Masse – so gern wir uns das heutzutage einzureden wünschen –, also nicht in der breiten, fremden Öffentlichkeit, sondern lediglich in der Begegnung mit sich selbst. Es ist das uns Menschen qua Schöpfung eingeschriebene Prinzip der Einheit, des „in-dividuum“-Seins, welches uns allein wirklich zu uns selbst kommen lässt und sich letzten Endes in der Einheit Gottes, at-tauhid, widerspiegelt. Gerade der private, abgeschiedene Bereich führt uns für gewöhnlich in diese Konfrontation mit dem eigenen Selbst und zu einer produktiven Bedrängnis hinsichtlich der eigenen existenziellen Selbstvergewisserung. Just dieser Bereich, der früher für einen selbst und den engsten Familienkreis reserviert war – etwa, wenn man morgens allein vor dem Spiegel steht, sich abends die Zähne putzt oder verträumt im Schlafzimmer dasitzt – wird ausgestellt und in einem Prozess der öffentlichkeitswirk­samen Selbstdarstellung zum Zwecke der Lifestylevermarktung in Szene gesetzt.

Da die Öffentlichkeit auf diese Art mittlerweile allgegenwärtig geworden ist und einem rund um die Uhr über die Schulter schaut, wird sie zu einer Art Ersatzselbst beziehungsweise Ersatzgott. Man ersucht das, was eigentlich nur die Einheit geben kann, vom dem, was qua Definition Vielheit ist. Man begibt sich in ein Abhängigkeitsverhältnis und bindet die eigene Selbstvergewisserung an die Instanz der Öffentlichkeit, da man selbst nicht souverän genug ist, um ein eigenes Subjekt im Angesicht Gottes zu sein. Da die Öffentlichkeit durch ihre vermeintliche Objektivität den Anschein erweckt, über diese Souveränität verfügen zu können, nimmt sie letztlich einen Götzencharakter an.

Die Auswirkungen auf den heutigen Gläubigen
Die Welt der Influencer ist noch recht jung, sodass wir die Auswirkungen auf uns als sich religiös bekennende Menschen noch nicht vollkommen einschätzen können. Tatsache ist: Viele Menschen leiden heute unter einer enormen Unsicherheit, weshalb sie notorisch nach Möglichkeiten der Selbstvergewisserung suchen. Man braucht eine Bestätigungsinstanz, um nicht in der unterbestimmten Subjektivität der Postmoderne unterzugehen. In der weiteren Öffentlichkeit bzw. in der eigenen Followerschaft findet der Influencer eine Instanz der Vergewisserung. Früher waren diese Bestätigungsinstanzen oft in der Religion oder in der Familie verortet; man könnte im freudschen Sinne sagen: in der sublimierten Vaterfigur. Es gab jedenfalls eine Instanz, die für den Heranwachsenden Selbstbestätigung und Weltbestätigung ermöglichte. Ein Surrogat für all das ­findet der moderne Influencer nun in der Öffentlichkeit, die ihm als amorphe Masse in Form von Likes Bestätigung gewährt.

Seit der Aufklärung hat sich im Westen ein hegemoniales Ideal säkular-moderner Selbstbestimmung herausbilden und bewähren können, das jedoch von Anfang an mit inneren Widersprüchen belastet war. Letztlich erstreben auch wir als Muslime Selbstbestimmung, doch es ist für uns axiomatisch, dass säkulare Selbstbestimmung letztlich nicht möglich ist. In unserer metaphysischen Grundanschauung erfährt jedes geschaffene Ding seine Bestimmung durch den Schöpfer, uns nicht ausgenommen. Der Weg des Islam ist die sukzessive Überführung der Selbstbestimmung durch Weltliches hin zur Selbstbestimmung durch Gott.

Aber, nochmals: Wir als muslimische Zeitgenossen sind vor den Auswirkungen unserer Zeit nicht gefeit. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, ein Teil dessen und damit nicht davor geschützt, unseren Körper und Lebensstil dem Trend gemäß optimieren und darstellen zu wollen, um bestätigt und anerkannt zu werden. Wir sollten uns aber darüber im Klaren sein, welche Auswirkungen, wenn auch indirekt, all das auf unser Seelenleben hat. Wir sind mehr als das, was wir von uns zeigen; das dürfen wir nie vergessen.

Der Text erschien am 9. Juli auf der Webseite „Dreinblick“. Nachtrag mit Genehmigung der AutorInnen.