Einführende Bemerkungen über Rolle und Bedeutung von Hadithen

Ausgabe 205

(iz). Die Hadithe [arab. Plural Ahadith] sind ­einer der wichtigsten Belege dafür, wie der Gesand­te Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden eben, sein Leben führte und seine Angelegenheiten regelte. Die Sammlungen von Imam Al-Bukhari, Imam Muslim und Imam At-Tirmidhi usw. sind vielleicht die bedeutendsten Mittel, die wir haben, um ihn kennenzulernen.

Sie erlauben es uns, ein Bild des Propheten zu formen – von seinen Handlungen und dem, was er zu sagen pflegte. Hadithe erinnern uns an seinen gewaltigen Charakter und Demut. Genauso lehren sie uns die allgemei­ne Nützlichkeit unsere Dins wie Belohnungen für bestimmte Handlungen, Beschreibun­gen der Eigenschaften Allahs, des Jüngsten Tages und des Jenseits, der vorangegangenen Propheten, Völker usw.

Aber eines sind Hadithe nicht ­(insbesondere gilt dies für diejenigen, die nicht in den Wissenschaften des Rechts ausgebildet sind): Sie sind keine Quelle für Fiqh. Werden sie ohne Anleitung der Rechtsgelehrten und Rechtsschulen angewandt, sind sie eher eine Irreleitung, egal wie hoch der Grad des Wissens ist. Abdallah ibn Wahb, einer der bedeutendsten Schüler von Imam Malik und selbst ein wichtiger Muhaddith [Hadithgelehrter] sagte: „Hätte Allah mich nicht durch Malik und Al-Laith gerettet, wäre ich in die Irre gegangen.“ Er wurde gefragt, warum dies so sei. „Ich lernte so viele Ahadith, dass sie mich verwirrten. Also trug ich sie Malik und Al-Laith vor und sie sagten mir, welche ich nehmen und welche ich ignorieren sollte.“

Auch andere Gelehrten der bedeutenden, ­frühen Generationen des Islam (Salaf), wie Sufjan ibn Ujainah, ein Zeitgenosse von Imam Malik, sagten: „Hadithe sind eine Quelle der Irreführung, außer für die Rechtsgelehrten.“ Und Imam Malik, ein Mann mit tiefer ­Liebe und Respekt für die Hadithe des Gesandten Allahs [wenn er Hadithe überlieferte, ­machte er eine Ganzkörperwaschung und zog neue Kleidung an], war der Ansicht: „Viele dieser Hadithe sind eine Ursache für Missverständ­nisse. Es gibt sogar welche, von denen ich gewünscht habe, dass ich sie niemals überlieferte hätte. Ich wünschte mir, ich würde für jedes dieser Hadithe zwei Schläge erhalten.“

Dies stammt von einem Mann, der als einer der größten Hadithgelehrten anerkannt wurde. Ein Mann, der für seine Zeitgenossen ein Synonym für korrekte und authentische ­Hadithe war. In dem Maße, dass sie ihn als „Amir Al-Muminun der Hadithe“ bezeichneten. Aber trotz seiner Meisterschaft auf ­diesem Gebiet und trotz – oder vielleicht ­gerade wegen – seiner enormen Liebe dazu, war er auf der Hut.

Er wusste, dass es, nur weil ein Hadith authen­tisch (sahih) war, nicht bedeutete, dass ­danach gehandelt werden musste. Es gibt verschiedene Faktoren eines Hadithes, die in Betracht gezogen werden müssen: seine Umstände, ­seine Entstehungszeit, sein allgemeiner oder spezifischer Charakter. Ebenso müssen wir wissen, ob es aufgehoben ist oder ob es ein anderes aufhebt und ob sein Überlieferer es als Handlungsanweisung betrachtete.

Widersprechen sich zwei Hadithe, auf welcher Grundlage wird das eine in die Tat umgesetzt und das andere ignoriert? Muss überhaupt eines von ihnen als Handlungsgrundlage gelten, denn es gibt viele Beispiele von Hadithen, nach denen keiner der Leute des Wissens handelte. Nehmen wir beispielsweise das Sahih-Hadith von Ibn Al-Huwairith, das in den Sunnan [Plural von Sunna] von Imam An-Nasa’i überlieferte wurde: „(…) dass er den Propheten – als dieser sein Gebet begann – sah, wie jener seine Hände hob, bis sie auf gleicher Höhe seiner Ohren waren – vor der Verbeugung, nach dem Sich-Erheben aus der Verbeugung, wenn er sich niederwarf und wenn er aus der Niederwerfung zurückkehrte.“

Dieses Hadith ist laut Imam Ibn Hadschar Al-Asqalani das korrekteste Hadith, das er zur Frage des Hebens der Arme im Gebet fand. Trotzdem wurde es nicht von den ande­ren Imamen umgesetzt. Warum nicht? Weil sie ihren Din nicht von Hadithen nahmen, sondern vielmehr von den Beispielen jener Lehrer, von denen sie ihre Wissen erbten. Die Hadithbücher waren und sind keine Rechtsquelle. Benutzen wir sie als solche, kommen wir zu Ergebnissen, die niemals zuvor hervorgebracht wurden. Sollten wir unser Fiqh direkt auf den Hadithbücher aufbauen, glauben wir, näher an der prophetischen Sunna zu sein. In Wirklichkeit entfernen wir uns von ihr. Manche glauben, sie hätten Zugang zu Hadithen, den ihre Vorväter nicht gehabt hätten. Aber die Wahrheit ist, dass sie in viel häufigeren Fällen jene ­Hadithe kannten und sich entschieden, nicht nach ­ihnen zu handeln. Es wurde berichtet, dass Tabi’in (die Generation nach den Prophetengefährten) auf bestimmte Hadithe hingewiesen wurde. „Wir kennen sie, aber die Menschen haben sie nicht praktiziert.“ Und Ibn Al-Madschischun antwortete, als er gefragt wurde, warum er Ahadith überlieferte und sie nicht in die Tat umsetzte: „Damit die Leute wissen, dass wir sie ganz genau kannten, als wir nicht nach ihnen handelten.“

Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Ich habe euch zwei Dinge hinterlassen. Haltet ihr an ­ihnen fest, werdet ihr nicht in die Irre gehen – das Buch Allahs und die Sunna Seines Propheten.“ Es besteht das häufige, von modernen Gelehrten verbreitete Missverständnis, dass das Wort „Hadith“ gleichbedeutend mit ­Sunna sei. So sagte Abdur-Rahman Doi in seinem Buch „Sharia: The Islamic Law“: „Die Primärquellen der islamischen Religion sind der Qur’an und die Ahadith.“ Dies ist nicht der Fall! Beide Worte beziehen sich auf verschiedene Dinge. Illustriert wird dies durch die Tatsache, dass Imam Malik sowohl als Imam der Ahadith und gleichzeitig als Imam der Sunna bezeichnet wurde.

„Sunna“ ist die Lebenspraxis des Gesandten Allahs, während die „Hadithe“ wörtliche Überlieferungen des Propheten sind, die berichten, was er tat, sagte oder unterließ. In manchen Fällen überschneiden sich beide, wenn beispielsweise die Hadithe etwas berich­ten, dass Teil der Lebenspraxis des Propheten am Ende seines Lebens war. Die ­Hadithe sind allgemeinerer Natur als die Sunna, da sie sowohl Dinge beinhalten, die Teil der prophetischen Lebensweise sind, als auch solche, die es nicht sind. Andererseits sind die Ahadith auch spezialisierter, da Hadithe nur ein Teil der Dinge sind, auf denen die Sunna ­beruht. Die anderen sind ‘Amal (oder Handlung), Akhlaq (Charaktereigenschaften) und Ahwal (Zustände).

Die erste Sache, der ‘Amal, war für die Prophetengefährten und die frühen Muslime die Hauptquelle der Sunna. Alltäglich handelten sie entsprechend dem, was sie beim Propheten beobachten konnten, indem sie seinen Anweisungen folgten: „Betet so, wie ihr mich beten seht.“ Die Tatsache, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise handelten, verweist darauf, dass sie diese als Sunna betrachteten. Taten zählen mehr als Worte. Dies wurde von ‘Umar ibn Al-Khattab anerkannt, als er auf dem Minbar sagte: „Bei Allah, ich werde es jedem schwer machen, der ein Hadith überliefert, das im Widerspruch zum ‘Amal steht.“

Diese Sichtweise findet sich bei Imam Malik wieder, für den ‘Amal ein stärkeres Fundament hat als die Ahadith, um die Grundlage der Sunna zu bilden. Wie Rabi’a in ­seiner berühmten Aussage feststellte: ‘Amal ist das Äquivalent zu einem Hadith, dass von ­tausend Leute an tausend Leute weitergegeben wird. Auf diese Art und Weise wurde der ‘Adhan von Medina über die Generationen weitergegeben. Gleiches gilt für die Einheiten der Maße Madd und Sa’ [medinensische Volumeneinheiten für Getreide, die beispielsweise bei der Bezahlung der Zakat Al-Fitr notwendig sind].

Äußere Handlung ist nur ein Teil der ­Sunna. Ebenso wichtig ist es, dass wir dem ­Gesandten auch in seinem Akhlaq, seinen Zuständen und Charaktereigenschaften folgen.“ Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Allah schaut nicht auf eure äußere Körper oder Formen, sondern schaut auf eure Herzen.“ Natürlich lässt sich eine gewisse Erkenntnis der prophetischen Eigen­schaften und Zustände und seines Rang bei Allah aus dem Qur’an und den Ahadith ziehen. Aber wirkliches Wissen bekommt man nur durch direkte Übertragung. Indem man Zeit mit jenen Menschen verbringt, die ­diese Eigenschaften verkörpern, indem man ihnen dient und sie solange beobachtet, bis man diese Qualitäten ebenso verkörpert. Diese Leute sind die Schujukh [arab. Plural von Schaikh] mit einer nicht unterbrochenen Überliefererkette bis zum Gesandten Allahs. Sie sind die wahren Erben und Träger ­seines Lichts. Durch sie wird die Sunna bewahrt und unter uns am Leben erhalten.

Allah sagte: „Und bedenkt, dass der Gesandte Allahs unter euch ist.“ (Al-Hudschurat, 7) Seine Sunna und sein Licht sind solange unter uns, solange wir in der Gesellschaft der Leute Allahs sind. Wer wirklich die Sunna will, sollte mit ihnen sein. (SHB)