Essay & Tagungsbericht: Die Gelehrten und die Globalisierung. Von Wolf D. Ahmed Aries

Ausgabe 213

(iz). Anfang Februar luden das Islamische Zentrum Hamburg und die Schura der Stadt Hamburg zur Diskussion der Frage „Islam & Globalisierung“ ein. Diesem herausfordernden Thema folgten zahlreiche Muslime aus ganz Europa, sodass der schöne Vortragsraum beinahe nicht ausreichte. Hinzu kam, dass eine für Deutschland ungewöhnlich hohe Zahl Gelehrter den Referaten folgten, die allerdings kaum etwas Neues boten.

Im Gegensatz dazu machten die Konzeption der Tagung und ihr Verlauf deutlich, wo die Defizite dieses Diskurses unter Muslimen liegen. Es geht bei diesem Thema vor allem nicht um ­hegemoniale Politik – von wem auch immer – oder um Probleme des Kalams – welcher denkerischen Schule auch immer. Die globa­len Veränderungen, die manche als ­einen „Fortschritt“ bezeichnen, werden weder von den Gelehrten der Religionen, noch von den Geisteswissenschaftlern vorangetrieben, sondern von den Ingenieurwissenschaften und den Naturwissenschaften.

Beide Wörter sind längst zu Kollektiv­singularen geworden, die eine Vielzahl unterschiedlichster Disziplinen ­umfassen; das heißt, von der Biochemie bis zur Nanotechnologie. Aber keine dieser Forschungsbereiche hatte einen einzigen Vertreter auf dem Podium, obwohl das Vorurteil, dass Mathematiker nicht eloquent genug wären, längst widerlegt ­wurde.

Muslime haben die koranische Aufforderung, über die Phänomene Seiner Schöpfung „nachzudenken“ so theologisiert, dass sie Veränderungen durch die Reflexion der Natur- und Ingenieurwissenschaftler nicht bemerkten. Dazu gehört der alltägliche „methodische A-Theismus“, der ebenfalls längst globalisiert ist. So wird kein Gelehrter, dessen Auto auf einer deutschen Autobahn streikt, den Qur’an in die Hand nehmen, sondern beim ADAC anrufen. Und keine noch so fromme Hausfrau wird in der örtlichen Moschee anrufen, wenn die Waschmaschine nicht funktioniert, sondern vielmehr den Reparaturdienst der entsprechenden Firma.

Daher hatte einer der Vortragenden auf dem Podium völlig Recht, als er auf die Konsequenzen der Einführung des iPhones hinwies. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts war ein Muslim, der irgendwo fernab der Zentren lebte, auf den örtlichen Gelehrten beziehungsweise die Zeitung angewiesen. Mit seinem ­iPhone kann er sich die Antworten auf seine Frage von den unterschiedlichsten ­Gelehrten ansehen, anhören und aussuchen. ­Junge Muslime in den europäischen Ballungszentren machen davon Gebrauch.

Muslime sind bedenkenlose Konsumenten solcher und anderer Geräte, ohne den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, wer die Geräte mit der ­Hilfe von was herstellt, welche Patente mit ihnen verbunden sind und welches Unter­nehmen damit Geld verdient.

Abu Bakr Rieger hat in dieser Zeitung mehrfach auf die Verbindung von Rohstoffgewinnung und moderner Produktion hingewiesen, für die so genannte „Seltene Erden“ benötigt werden. Während Öl und andere fossile Rohstoffe die Gazetten füllen, liest kaum jemand ­etwas über die vielen „Seltenen Erden“, von denen inzwischen ganze Industriezweige abhängig sind.

Sie werden zum ­großen Teil in den Entwicklungsländern gefördert – allen voran in China. Nur davon war in Hamburg nichts zu hören.

In Ägypten mag ein Bruder mit ­seiner Familie in einem anderen Landesteil telefonieren, aber Ägypten ist nicht in der Lage, auch nur ein einziges iPhone herzu­stellen, weil es weder die Patente dafür besitzt, noch das Land die Kapazitäten hätte, in eigenen Forschungseinrichtungen solche in absehbarerer Zeit aufzubau­en. „Nachdenken“ über Seine Schöpfung bedeutet nicht über die Frage der „Kausalität“ zu streiten, vielmehr zu forschen, um im wirtschaftlichen Wettstreit selbstständig zu werden.

Dabei geht es nicht um Waffen welcher Art auch immer. Es sind die ­kleinen Dinge des Alltages wie ein Staubsauger oder Fernseher, die CDs oder eine Teflonpfanne mit denen weltweit verdient wird. Sie verändern unmerklich die globalisierte Welt, sodass international die gleichen Probleme zum Beispiel beim Strom bestehen, der diese Geräte funktionieren lässt. Zur Globalisierung gehören daher die überall auftretenden Kollateralschäden und infrastrukturellen Sorgen mit ihren globalen Umweltschäden. Auch hierzu war in dieser Zeitung zu lesen.

Würde es daher nicht zu einer islamischen Diskussion über die Globalisierung gehören, sich Gedanken über den koranischen Begriff des „‘Ilm“ zu machen? Was hilft einem Tunesier oder Malaien, wenn er ein hervorragendes Examen in Informatik erreicht und anschlie­ßend nach Europa gehen muss, um ­einen Arbeitsplatz zu bekommen, weil im eige­nen Land die Jobs fehlen.

Globalisierung meint auch einen globalen Arbeitsmarkt der Forschungseinrichtungen und Betriebe beziehungsweise anders formuliert: die ständige Abwande­rung der Intelligenz aus islamischen Mehrheitsgesellschaften in die Minderheitssituation nichtislamischer Staaten. Wie bewahren sie dort ihren Islam? Da hilft es nur wenig, Qur’an und Sunna-Literatur ins Englische, Italienische oder Französische zu übertragen. Es empfiehlt sich solche Übersetzungen nebeneinander zu lesen, um sich bewusst zu werden, wie anders die Sätze in einer anderen Sprache klingen.

Im Spiegel der verschiedenen Sprachen sieht die Welt anders aus, als in der eige­nen Muttersprache. Die ­Import-Imame aus den unterschiedlichsten muslimischen Ländern demonstrieren in ihrer allzu häufigen Sprachlosigkeit die Nöte vor allem der Jugend, die sich inzwischen stellenweise ihren eigenen „Selfmade-­Islam“ zusammen gebastelt hat. Wenn man den Begriff „‘Ilm“ auf die ­Tradition des Kalam, der Madhhab oder Akhlaq beschränkt, geht man an der Globalisierung vorbei.

Dies trifft leider auch Aspekt der Spiritualität zu, welcher den Muslimen am Herzen liegt. Sie wurde bereits vor ­Jahren im Zuge der „Esoterik-Welle“ für die Gesundheitsindustrie als Entspan­nungs­­technik instrumentalisiert oder gar missbraucht?

„Islam & Globalisierung“ sind daher längst eine umfassende Herausforderung für die Umma schlechthin geworden, sodass man nur dankbar sein kann, dass sich die beiden Hamburger Partner der Frage angenommen haben und sie hoffentlich weiterhin auf die Tagesordnung bringen.