Essay: Tasnim El-Naggar reflektiert über die gleichzeitige Nähe und Distanz des zeitgenössischen Menschen

Ausgabe 201

(iz). Ich sitze – wie so oft – in der U-Bahn, habe es mir auf der Sitzbank so gut es geht bequem gemacht, hole mein Buch hervor, lese ein paar Zeilen. Lange bleibe ich nicht dabei; ich blicke auf, sehe Menschen, versuche nun aus ihren Gesichtern zu lesen. Oft kommt es in der letzten Zeit dazu, in der U-Bahn.

Im Bus ist man abgelenkt von den Fenstern, die nach draußen blicken, einem Berlin zeigen. Im Auto dreht man das Radio doch allzu oft laut auf, lässt ­alles Äußere draußen. Auf dem Fahrrad fühlt man den Wind, die Sonnenstrahlen, das Rauschen im Ohr. Zu Fuß ist es meist eilig, hastig. Aber in der U-Bahn sitzt man. Im Gleichschritt fährt sie, meist ohne Hindernisse, unter der Erde. Rechts und links, jenseits der Fenster, ist es dunkel, nichts lenkt ab vom Anblick der Menschen, die mit mir hier sitzen oder stehen, die hier oder da ein- und wieder aussteigen. Ich habe Zeit.

Ich fahre durch, von Anfang bis Ende. Für kurze Zeit haben sie das gleiche Schicksal wie ich, einen klitzekleinen Augenblick unseres Lebens: Wenn wir in dieser U-Bahn durch Berlin fahren.

Und jeder Mensch hat seine eigene ­Geschichte, das weiß ich. Und ich will sie hören, fühlen, verstehen, in diesen Augenblicken. Also schaue ich auf die Furchen der Menschen, die ich nicht kenne; Furchen, die sich manchmal tief eingegraben haben, sich manchmal als lächelnde Grübchen herausstellen. Ich schaue auf die Hände von Menschen, die ich nicht kenne. Manche sind grob und grausam, manche zart und zärtlich, manche wütend, oder weinend.

Ich schaue in die Augen von Menschen, die ich nicht kenne. Und manchmal treffen sie sich – ihre und meine. Manchmal, nur für ein oder zwei Sekun­den. Dann wird mir ihre Geschichte am ehesten gewahr, dann sehe ich manchmal einen Bruchteil von Glück, manchmal einen Bruchteil tiefen Abgrunds. Ja, und meist sind es Abgründe in dieser ­großen Stadt. Oft. Viele Abgründe ­meine ich in den Augen dieser Menschen gese­hen zu haben. Viele. Aber manchmal auch Glück.

Bruchteile ihrer Geschichten, viele, ­viele Bruchteile. Bruchteile von Trauer und Leid und Einsamkeit und Verstoßen-Sein und Wut und Hass und Groll und Härte und Verrohung und Aggression und Verzweiflung. Manchmal – seltener – auch Bruchteile von Freude und Liebe und Zufriedenheit und Reinheit und Dankbarkeit und Ausgelassenheit und Genuss und Leidenschaft und Kraft und Zuversicht. Ja, ich muss nach ­diesen glücklichen Bruchteilen in dieser großen Stadt suchen. Sie scheinen hinter einer harten Schicht versteckt zu sein oder sind bloße Erinnerungen einer längst vergan­genen Zeit. Für manche sind sie längst begraben, vergessen, weggeschwemmt, von dieser großen Stadt.

Gegenüber von mir sitzt ein junger Mann, Kopfhörer im Ohr, ­Markenjacke, Markenschuhe, ein Aktenordner auf dem Schoß. Und ein abwesender Blick. Sein Fuß wippt zur Musik, sein Kopf ist ­leise an die Scheibe gelehnt. In Gedanken erzählt er mir seine Geschichte. Wie er nach Berlin zog, weit weg von den ­Eltern und Freunden, weit weg von allem, weit weg von sich auch. Er zog durch Clubs, gewann Freunde, Feinde, lernte das verrauchte und bekiffte Berlin kennen, und auch das leidenschaftliche und sinnliche.

Jetzt will er von nichts mehr etwas ­wissen. Er setzt sich die Kopfhörer auf, und die Musik schwemmt ihn weg, und sein Fuß wippt, und sein Kopf steht still, und die Welt. Ja, vielleicht ist es so. Vielleicht auch nicht. Was weiß denn ich?

Eine Frau steigt ein, dezent geschminkt, gepflegtes Äußeres, mittleren Alters, Ehering am Finger, mit einer Douglas-Tüte am Arm. Gut sieht sie aus, attraktiv. Aber ihr Mund verrät etwas – es umspielt ihn eine gewisse Härte, eine Kälte, die es in sich hat. Wie viele Wälle musste sie schon um sich bauen, wie viele durchbrechen, wie viele Zelte aufschlagen und wieder abbauen, wie viele Pläne schmieden und sie für immer begraben? Viele, sagt ihr Mund. Sehr viele.

Da drüben sitzt ein älteres türkisches Mütterchen in langem Mantel und geblümtem Kopftuch. Kurz streifen sich unsere Blicke, ich lächle sie an, sie lächelt mich an, ich flüstere „As-Salamu ‘alaikum“, sie schweigt, ich schweige. Eine Wärme durchfährt mich, ein Gefühl von Verbundenheit. Ein weiteres Lächeln macht sich in mir breit. Meine Schwester. Und doch weiß ich nichts über sie. Nicht, wo sie herkommt, wo sie hingeht, was sie gerade denkt, ob diese U-Bahn-Fahrt ihr etwas bedeutet. Nichts.

Dann kommt der, den ich schon sehr, sehr oft hier gesehen habe. In dieser U-Bahn, auf dieser Strecke. Ihn und viele, viele wie ihn. Immer trägt er die gleiche Hose, die gleichen Schuhe, die gleiche Jacke, den gleichen starren Blick auf seinem Gesicht. „Guten Tag, ­entschuldigen Sie, wenn ich Sie einen Augenblick ­störe“, beginnt er, jedes und jedes Mal, und preist Berlins Straßenmagazin an. Seine Stimme ist immer gleich kräftig und durchdringend, seine Schritte immer gleich schlurfend, sein starker Alko­holgeruch vermischt mit Körperdüften durchströmt immer gleich beißend meine Nase. Ich drehe mich weg, ich lese mein Buch.

Nein, in seine Augen kann ich nicht schauen, in seine Abgründe will ich nicht blicken. Sie sind zu tief für mich, zu schmerzhaft. Jetzt baue ich meine ­eigene Mauer auf, ich merke förmlich, wie sich mein Blick verschließt, mein Körper sich verkrampft, meine Hände das Buch fest halten. Ich möchte keine Geschichten mehr hören, fühlen, verstehen, in ­diesem Augenblick. Ich steige jetzt aus.

Dann laufe ich raus aus dem Unterirdischen, wo nur Menschen, Menschen, Menschen und ihre Geschichten waren, und rein in Berlins Straßen, die wieder voll von Ablenkung sind – Geschäfte, Häuser, Autos neben mir, den Himmel über mir. Schließlich bin ich da angelangt, wo ich eigentlich hin will. Zu warmen Umarmungen, herzlichem Lachen, freundlichen Friedensgrüßen. Wieder geht die Tür zu, und alle Ablenkung ist verschwunden. Wieder geht es um Menschen und ihre Geschichten. Wieder sehe ich Furchen und Hände und Köpfe und Füße und Münder und Augen. Aber diesmal ­mache ich mir nicht meine eigene Geschichte. Diesmal teilen wir sie, die Geschichten voller Bruchteile von Glück und Abgrund. Aufrichtig und echt. Ja, auch hier sind die Abgründe viele, wie es in dieser großen Stadt eben ist, wie es bei Menschen eben ist. Aber wir teilen eben, ein paar Bruchteile.

Wie seltsam: Wie ähnlich ist doch im Grunde die Begegnung von Menschen auf der Fahrt in der U-Bahn und die ­Begegnung von Menschen an einem Ort der Freundschaft. Ort ist Ort, Mensch ist Mensch, Geschichte ist Geschichte. Unser Schicksal ist, dass wir einen Teil des Weges zusammen zurücklegen.

Aber welch ein Unterschied liegt zwischen zusammen und gemeinsam! Welch ein Unterschied liegt zwischen Anonymität und Vertrauen! Und wie schnell kann das eine in das andere münden, und das andere in das eine! Vielleicht sollte ich den jungen Mann mit dem lauten Kopf, die reiche Frau mit dem harten Mund, das türkische Mütterchen mit dem milden Lächeln – und vielleicht eines Tages auch den Mann mit der immer gleich kräftigen Stimme und dem beißenden Geruch – bei meiner ­nächsten U-Bahn-Fahrt ansprechen und auf ­diese Weise einen Bruchteil meiner Geschichte teilen.

Es gibt doch so viele von ihnen, so viele. Vielleicht kann das die trübe, traurige, dicke Schicht, die sich um diese große, anonyme Stadt gelegt hat, zumindest ein wenig abkratzen und Bruchteile von Abgründen zu Bruchteilen von Glück machen. Nur ein gemeinsames Schicksal lang.