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Europäer „noch auf die USA angewiesen“

Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert, via flickr

BERLIN/BRÜSSEL (GFP.com). Neue Schritte zur Erlangung „strategischer Autonomie“ stehen im Mittelpunkt der morgigen Videokonferenz der EU-Verteidigungsminister. Zum einen ist eine „strategische Überprüfung“ von PESCO vorgesehen; das Anfang 2018 gestartete Projekt hat zum Ziel, die rüstungsindustrielle und die militärische Eigenständigkeit der EU zu vergrößern. Zu Monatsbeginn ist nach mehrjährigen Auseinandersetzungen eine Lösung für den Konflikt um die Frage, ob sich Drittstaaten an PESCO beteiligen dürfen, in Kraft getreten; dies wird möglich sein, allerdings nur in engen Grenzen, die für die US-Rüstungsindustrie nachteilig sind.

Unabhängig davon bescheinigen Spezialisten PESCO gravierende Mängel. Darüber hinaus debattieren die EU-Verteidigungsminister morgen über den deutschen Plan, einen „strategischen Kompass“ für die Union zu schaffen, der die widersprüchlichen Interessen der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner bringen soll. In der Debatte, ob sich „strategische Autonomie“ der EU in absehbarer Zeit erreichen lassen wird, gibt sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer skeptisch.

PESCO wird „überprüft“
Das im Jahr 2018 gestartete Projekt PESCO (Permanent Structured Cooperation, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), das einen Schwerpunkt der morgigen Videokonferenz der EU-Verteidigungsminister bildet, geht nächstes Jahr in seine zweite Phase (2021 bis 2025) und wird deshalb aktuell einer „strategischen Überprüfung“ unterzogen. Das Ziel des Projekts ist es, die Erlangung „strategischer Autonomie“ rüstungsindustriell sowie militärisch zu beschleunigen. Zur Zeit sind 46 Einzelvorhaben in Arbeit; eins ist inzwischen beendet worden. Zu ihnen zählen so unterschiedliche Vorhaben wie der Aufbau logistischer Knotenpunkte für die Streitkräfte der Mitgliedstaaten und die Entwicklung der „Eurodrohne“.

Während offiziell zuweilen Fortschritte vermeldet werden, äußern sich Spezialisten immer skeptischer über das Projekt. So hieß es bereits im Mai unter Berufung auf ein internes Dokument, man stehe vor einem „Debakel“; lediglich ein Drittel der PESCO-Vorhaben entwickle sich erfolgversprechend, die Mehrheit befinde sich immer noch im Planungsstadium.

In einem Bericht über einen Workshop, den Ende September das Bundesverteidigungsministerium sowie die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gemeinsam abhielten, heißt es, die 47 PESCO-Vorhaben könnten „größere Kohärenz“ vertragen; man müsse abwarten, ob nicht einige von ihnen sogar ganz über Bord geworfen würden.

Die Drittstaatenfrage
Unabhängig davon ist es der Bundesregierung Ende Oktober gelungen, im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft einen seit Beginn des PESCO-Projekts schwelenden Streitpunkt zu lösen: die Frage, ob auch Unternehmen aus Ländern teilnehmen dürfen, die nicht der EU angehören. Im Grundsatz widerspricht das dem eigentlichen Ziel von PESCO. Allerdings gibt es Ausnahmen; so ist etwa die Teilnahme Großbritanniens und britischer Unternehmen trotz des Brexit durchaus erwünscht: Wegen seines erheblichen politisch-militärischen Gewichts wollen Berlin und Brüssel das Vereinigte Königreich in Belangen der Außenpolitik so eng wie möglich an die EU anbinden; die Bundesregierung hat dazu sogar das sogenannte E3-Format etabliert.

Umstritten ist hingegen die Beteiligung von US-Konzernen. Während sich etwa Frankreich zunächst strikt gegen sie verwahrte [4], plädierten andere, Polen oder die Niederlande etwa, aufgrund ihrer speziellen transatlantischen Bindung dafür, der Beteiligung von US-Unternehmen an PESCO-Projekten keinerlei Steine in den Weg zu legen, auch wenn damit möglicherweise ein Abfluss von EU-Mitteln in die Vereinigten Staaten verbunden wäre. Ein Argument, auf das sie sich stützen konnten: US-Konzerne sind auf so manchen Feldern technologisch klar überlegen; das könne man sich zunutze machen, hieß es.

Nur in engen Grenzen
Die Einigung, die Berlin am 28. Oktober erzielen konnte und die am 5. November rechtskräftig wurde, ist vor allem in US-Rüstungskreisen auf Unmut gestoßen. Der EU-Kompromiss sieht vor, dass Unternehmen mit Firmensitz außerhalb der Union grundsätzlich an PESCO-Vorhaben teilnehmen können. Allerdings muss die Teilnahme für jedes Vorhaben einzeln beantragt werden. Zudem müssen nicht nur die EU-Staaten zustimmen, die an dem Vorhaben über ihre Streitkräfte oder über Unternehmen direkt beteiligt sind; auch der Europäische Rat muss einverstanden sein – einstimmig.

Damit hat faktisch jeder EU-Staat die Möglichkeit, ein Veto gegen die Beteiligung beispielsweise eines US-Rüstungskonzerns einzulegen. Hinzu kommt, dass kein einziges für ein PESCO-Vorhaben genutztes Bauteil fremden Exportbeschränkungen unterliegen darf; dies richtet sich vor allem gegen die Nutzung von US-Technologie, die wegen US-Restriktionen („ITAR“) üblicherweise nur mit expliziter Genehmigung Washingtons genutzt und weiterexportiert werden kann.[6] Stoßen diese Einschränkungen in den USA auf Unmut, so ruft beim NATO-Mitglied Türkei Ärger hervor, dass die neuen PESCO-Drittstaatenregeln „gemeinsame Werte“ wie auch klare Kompatibilität mit den Interessen der EU-Mitgliedstaaten zur Voraussetzung machen. Spätestens seit der Eskalation des Konflikts mit Griechenland und Zypern kommen türkische Unternehmen damit für PESCO kaum noch in Betracht.

Der „strategische Kompass“
Neben PESCO werden sich die EU-Verteidigungsminister am morgigen Freitag vor allem mit dem geplanten „Strategischen Kompass“ befassen. Der Sache nach handelt es sich bei dem Projekt um einen Versuch, die widersprüchlichen außen- und militärpolitischen Interessen der Mitgliedstaaten, die einer schlagkräftigeren Weltpolitik der Union bisher im Wege stehen, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Als Hebel soll eine gemeinsame „Bedrohungsanalyse“ dienen, aus der Brüssel dann eine gemeinsame Strategie sowie eine klarere Fokussierung der Aufrüstung der einzelnen EU-Staaten ableiten will. Die Bedrohungsanalyse soll – so lautet der Plan – noch in diesem Jahr fertiggestellt werden; auf eine Grundlage sollen sich die Geheimdienste der einzelnen Länder sowie ihr EU-Äquivalent (European Union Intelligence and Situation Centre, EU IntCen) einigen. Damit wird die Festlegung zentraler Koordinaten der künftigen EU-Außen- und Militärpolitik noch weiter als bisher jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen. Davon unabhängig werden jedoch auch gegenüber dem „Strategischen Kompass“ erste skeptische Stimmen laut.

Die EU setze sich große Ziele, habe jedoch nicht einmal ausreichende Mittel, um wenigstens auf Konflikte und Krisen „in ihrer Umgebung zu antworten“, hieß es Ende September auf dem erwähnten Workshop des Verteidigungsministeriums und der DGAP; zeige der „Kompass“ keine konkreten Lösungen auf, helfe auch er nicht weiter.

„Noch auf die USA angewiesen“
Ernüchtert dadurch, dass die vor inzwischen über vier Jahren – noch vor dem Wahlsieg von US-Präsident Donald Trump – stolz angekündigte „strategische Autonomie“ der EU nicht die von den deutsch-europäischen Eliten erhofften Fortschritte macht, gibt sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Hinblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre eher skeptisch. Wie sie am Dienstag in einer Grundsatzrede konstatierte, stellen die USA zur Zeit laut Schätzung des britischen Royal United Services Institute (RUSI) „75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten“

„All dies zu kompensieren würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern und unsere heutigen Verteidigungshaushalte mehr als bescheiden daherkommen lassen“, stellte die Ministerin fest: Wenn „die Idee einer strategischen Autonomie Europas … die Illusion“ nähre, „wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten“, dann gehe sie „zu weit“; „Deutschland und Europa“ seien jedenfalls „auf absehbare Zeit“ auf „die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas“ angewiesen.

Kramp-Karrenbauers Urteil wird zur Zeit in Frankreich scharf kritisiert; Präsident Emmanuel Macron dringt energisch auf schnellere Fortschritte. Ausgelöst worden ist die weiter andauernde Debatte freilich dadurch, dass die erhofften Fortschritte trotz gelegentlicher verbaler Kraftmeierei noch nicht eingetreten sind.