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Exil-Uigurin enthüllte „China Cables“

Foto: flickr.com, futureatlas.com | Lizenz: CC BY 2.0

Hunderttausende Uiguren sollen in China in Umerziehungslager gesteckt worden sein. Die „China Cables“ widerlegen Pekings Behauptungen, es gehe um „freiwillige Weiterbildung“. Chinas Agenten sind schon hinter den „Whistleblowern“ her. Die Enthüllung birgt ein hohes Risiko.
Den Haag/Peking (dpa/iz). Eine Exil-Uigurin in den Niederlanden hat sich als Quelle für die als „China Cables“ bekannten Geheimdokumente zur Verfolgung und Inhaftierung von Uiguren in China zu erkennen gegeben. „Ich wusste, dass es riskant ist, diese Papiere zu veröffentlichen, aber ich konnte nicht anders“, sagte Asiye Abdulaheb in einem Interview zu der Enthüllung, die seit Ende November große Wellen schlägt.
Über die 24 Seiten starken Dokumente hatte das Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ) berichtet. Sie belegen, dass die von der kommunistischen Führung als „Weiterbildungseinrichtungen“ beschriebenen Lager in Wirklichkeit streng bewachte Haftanstalten zur Umerziehung der muslimischen Minderheit sind. Auch widerlegen sie die Beteuerungen der Pekinger Regierung, wonach der Aufenthalt darin freiwillig sei.
Abdulaheb will die Dokumente von einem Beamten in Ürümqi bekommen haben, der Hauptstadt der nordwestchinesischen Region Xinjiang. Um ihre Quelle nicht in Gefahr zu bringen, wollte sich die 46-Jährige nicht weiter über den Ursprung der Dokumente äußern. Wie in Peking von einer diplomatischen Quelle zu erfahren war, wird die Echtheit in hohen chinesischen Regierungskreisen „nicht bestritten“.
„Ich hoffe, dass die Tragödie, die hier passiert, so schnell wie möglich enden wird“, schrieb der Beamte an die Exil-Uigurin. „Ich hoffe, dass die Weltgemeinschaft stoppen kann, was hier vorgeht.“ Als sie diese Zeilen erhielt, zitterte die 46-Jährige. Einst hatte sie selbst in Ürümqi für staatliche Medien gearbeitet. Nach den blutigen Zusammenstößen 2019 mit rund 200 Toten war Abdulaheb geflüchtet. Heute ist sie Niederländerin.
„Ich dachte, dass diese Dokumente der Welt zeigen können, was wirklich in meiner Heimat passiert, und dass jedes Detail, das Überlebende schildern, wahr ist“, sagte Abdulaheb in einem Interview.
Die «China Cables» enthüllen die systematische Verfolgung der Uiguren und Anleitungen zu ihrer massenhaften Internierung. Sie zeigen auch auf, wie Uiguren gezielt überwacht werden und eine große Datenbank alle möglichen Informationen sammelt, um Verdächtige auch mit künstlicher Intelligenz zu ermitteln. Im Ausland setzt China demnach seine Botschaften und Konsulate ein, um Uiguren zu bespitzeln.
Abdulaheb wusste, dass es gefährlich sein könnte, die heiklen Papiere öffentlich zu machen. Wie weit der Arm des chinesischen Geheimdienstes reicht, spürte die 46-Jährige, noch bevor sie die Dokumente weitergeben konnte. Ihr Ex-Ehemann, der auch in den Niederlanden lebt, wurde von Agenten kontaktiert, bedroht, über die Papiere befragt und aufgefordert, seine Ex-Frau auszuspionieren.
Bis dahin hatte Abdulaheb erst ein Foto von den offiziellen Dokumenten auf Twitter veröffentlicht, weil sie nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte. Sofort wurden ihre Konten auf sozialen Medien und ihre E-Mail gehackt. Ihr Laptop funktionierte nicht mehr. Es gab Todesdrohungen. Eine Botschaft hat sie verwahrt: „Wenn du nicht aufhörst, wird jemand deine Leiche in der schwarzen Mülltonne vor deinem Haus finden.“ Die Uigurin musste die Polizei einschalten.
Auf das Foto auf Twitter stießen zwei Forscher, die sich schon früh mit der Internierung des Turkvolkes beschäftigt hatten. Sie befanden die Dokumente für echt. Am Ende gab sie Abdulaheb schließlich an das Internationale Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ), in dem auch NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ mitarbeiten. Der Verbund veröffentlichte die „China Cables“ Ende November. Mehrere Dokumente sind vom damaligen Vize-Parteichef in Xinjiang unterzeichnet. Zu den Papieren gehören eine Anleitung für den Betrieb von Lagern, vier Erläuterungen zur Überwachung der Uiguren mithilfe künstlicher Intelligenz und riesiger Datensammlungen sowie eine „Stellungnahme zur weiteren Verstärkung und Standardisierung von Erziehungs- und Ausbildungszentren für berufliche Fertigkeiten“.
Die Reaktionen weltweit waren heftig: „Wenn tatsächlich Hunderttausende Uiguren in Lagern festgehalten werden, dann kann die internationale Gemeinschaft davor nicht die Augen verschließen“, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) und forderte Aufklärung von Peking. Kurz darauf verabschiedete der US-Kongress in Washington fast einstimmig ein länger vorbereitetes Gesetz zum Schutz der Rechte der Uiguren, das auch Sanktionen gegen Verantwortliche vorsieht.
„Die ‘China Cables’ untermauern Klagen über die Umerziehungslager, die frühere Inhaftierte, Journalisten und Akademiker vorgebracht haben“, sagte der US-Anthropologe und Xinjiang-Experte Darren Byler. Dass sie verraten wurden, könne auf wachsenden Widerstand im System hindeuten. Nach seinem Eindruck ist die chinesische Führung jetzt besorgt, dass jene in der Welt, die vielleicht noch Zweifel hatten, ihre Meinung ändern könnten – und die „wirtschaftlichen und moralischen Kosten“ noch über Jahrzehnte zu spüren sein werden.
„Ich denke, dass ein Teil von uns wirklich geschockt war durch diese Enthüllung“, sagte der Präsident der EU-Handelskammer in Peking, Jörg Wuttke. „Aber ich denke, was ich sagen kann ist, dass wir alle wussten, dass etwas nicht in Ordnung war.“ Deutsche und andere ausländische Unternehmen, die meist schon länger in Xinjiang tätig sind und sich jetzt rechtfertigen müssen, hätten sichergestellt, „dass die Dinge in unseren Betrieben nach internationalen Standards laufen“, sagte Wuttke. Aber nach den Veröffentlichungen „schauen wir uns unsere Lieferketten noch mal genauer an“.
Nach dem Proteststurm erwartet die „Whistleblowerin“ Abdulaheb aber nicht, dass die kommunistische Führung die Lager schließen wird. Im Gegenteil: „Anstatt ihre Fehler zu korrigieren, versuchen sie weiter, die Uiguren zu dämonisieren“, sagte die Exil-Uigurin. „Sie versuchen, ihre Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus zu rechtfertigen.“
Seit die „China Cables“ ans Tageslicht gekommen sind, ist Abdulaheb aber erleichtert. Die Mutter einer sechsjährigen Tochter und eines achtjährigen Sohnes hofft, dass die Öffentlichkeit ihr und ihrer Familie persönlich Schutz bieten kann. Deswegen hatte sie als erstes schon in der niederländischen Zeitung „Volkskrant“ ihre Identität enthüllt. Ohnehin habe Chinas Regierung längst von ihr gewusst, sagte Abdulaheb. „Ich versuche zu vergessen, was mir passiert ist, und wie bisher normal mein Leben zu leben.“
Die Mutter von zwei Kindern hofft, dass die öffentliche Aufmerksamkeit ihr und ihrer Familie auch persönlichen Schutz bietet.