Familie und Erziehung: Anas Coburn über die Werkzeuge des Lernens in der technologischen Gesellschaft

Ausgabe 207

Einer der eindringlichsten Effekte des techno­logischen Systems ist, dass es uns die individu­elle Verantwortlichkeit in einem Lebensbereich nach dem anderem entzieht. Als Muslime wissen wir aber, dass wir [Allah gegenüber] Rechenschaft schulden.

Die Verantwortung für unsere Kinder zu übernehmen ist zu einer Priorität innerhalb der muslimischen Gemeinschaft geworden. Ein wichtiger Schritt ist dabei die Beteiligung von Eltern an der schulischen Erziehung ihrer Kinder. Insbesondere für muslimische Bildungseinrichtungen und -projekte1 ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie die Eltern in ihre betrieblichen Abläufe mit einbinden. Angesichts der großen Wartelisten können diese Schulen das elterliche Engagement zu einer Aufnahmebedingung machen.

Diese Form der Beteiligung sollte drei Facetten haben: Elterliche Anteilnahme am schulischen Leben der Kinder – inklusive Hausauf­gaben, schulische Aktivitäten, lokale Gemeinschaftsprogramme etc. Eine verpflichtende Teilnahme an dauerhaften Erziehungsprogramme für die Eltern über den Islam, Erziehungsmethoden und kulturelle Bildung ist ebenfalls angeraten. Besondere Aufmerksam­keit muss auf der islamischen Bildung der Mütter gelegt werden, die, wie wir wissen, die erste Schule (Madras) sind. Dies sollte im kleinen Kreis in den Haushalten passieren. Diese Art der Bildung könnte vielleicht der wichtigste Schritt sein, den wir nehmen ­können. Der Glaube und die rechtschaffene Lebensführung stehen im Kern einer muslimischen Gemeinschaft. Werte und ihre Praxis gehen damit einher. Obwohl viele muslimische Bildungseinrichtungen Arabisch, Fiqh und andere traditionelle Disziplinen lehren, tun sie das auf eine abstrakte Art und Weise. Oft wird Islam unterrichtet, ohne dass der Unterricht als solcher muslimisch wäre.

„Wir sind bisher dabei gescheitert, ein systematisches Lehrprogramm zu entwickeln, dass unsere Kinder das ‘Muslim-Sein’ lehrt. Dazu bräuchte es eine feinere und tiefere Kenntnis der Kinder und des Islam selbst“, schrieb Dawud Tauhidi 2001. Er präsentierte die Vision eines werte-zentrierten Herangehens an die islamische Erziehung.

Wir müssen unseren Kindern die ­Werkzeuge für das Lernen an die Hand geben und sie unterrichten, diese Fertigkeiten geschickt einzusetzen. Ein solches ermöglicht ihnen die Reise auf dem lebenslangen Prozess des Lernens, der zuerst das Wissen ihres Dins betrifft. Und dann den rapide wachsenden und sich ändernden Bereich des technischen Wissens. Nach Dorothy Sayers (und Aristoteles vor ihr) beginnen diese Werkzeuge mit Gramma­tik, Dialektik und Rhetorik.

Die Grammatik ist nicht nur der korrekte Satz, um ein Hotelzimmer in einer fremden Sprache zu reservieren. Sie bezieht sich auf die Struktur einer Sprache, wie sie sich zusammensetzt und wie diese funktioniert. In diesem Sinne verfügt dieses Werkzeug über ein sehr breites Anwendungsgebiet. Zu ­verstehen, wie irgendein Wissensgebiet aufgebaut ist, was die Elemente ihres Diskurses sind und wie es mit anderen funktioniert, ist ein sehr mächtiges Werkzeug.

Dialektik beschäftigt sich mit der Definition von Begriffen, den Aussagen, der Kons­truktion von Argumenten und dem Auffinden von Fehlern in Argumenten. Würde dieses Mittel im wesentlich größerem Umfang von der allgemeinen Bevölkerung angewandt, hätten es die Imageberater, die Werbung und Propagandisten eindeutig schwieriger.

Rhetorik enthält unter anderem eine Anerkennung für Exzellenz. Daher wurde sie traditionell im Zeitraum der Pubertät unterrichtet. Das Studium der Rhetorik hilft beim Schliff der Schreib- und Sprechfertigkeiten. Versteht man das größere Konzept der Rhetorik hilft sie beim Finden von Brillianz – unabhängig davon, wo man sie findet.

Es ist interessant zu wissen, dass eine traditio­nelle islamische Bildung jene Werkzeuge betonte, die von Aristoteles als Trivium be­zeichnet wurden. Es gibt vier weitere Lehrfä­cher – Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, die Aristoteles Quadrivium nann­te und ebenfalls Teil der islamischen Lehrtradition waren. Allerdings ersetzte im Islam das Studium der Dichtung, mit ihren Mustern aus Versen und Rhythmus, die Musik. Der überall vorhandene Einfluss des technologischen Systems – in all seinen Ausformungen – verformt den Menschen rapide in eine Kreatur, die weit von der Fitra (arab. der natürliche Schöpfungszustand) entfernt ist. Weder wir, noch unsere Kinder, können seinem Einfluss entkommen.

Wappnen wir uns aber mit islamischen Werten und Wissen, so hilft uns dies beim Erkennen jener Teile dieses Systems, die die ­größten Gefahren beinhalten. Aber diese Werte und dieses Wissen stellen in sich noch keine Einsicht der Wege dar, auf denen jenes System unseren Din ausholt. Oft vernehmen wir die Forderungen nach Gelehrten, die die ­hiesigen Lebensbedingungen kennen. Angesichts der Macht dieses Systems und der daraus folgen­den Schwere seiner unbeabsichtigten Konse­quenzen. Jeder in der Gesellschaft benötigt – im Vergleich zu heute – ein größeres Maß an Kenntnis von der Funktionsweise dieses Systems.

Kulturelle Bildung geht weit über Medien hinaus. Wir müssen sämtliche ­Untersysteme unsere Gesellschaft verstehen, sofern sie uns betreffen: die Art und Weise, wie Politik wirklich funktioniert, der Unterschied zwischen medizinischer Behandlung und Gesundheits­system, der Unterschied zwischen Sozialstaat und Gemeinschaft, Polizei, Militär, Sicherheit, etc. Verstehen unsere Kinder gründlich, wie das Systems arbeitet, haben sie eine größere Chance, seine negativen Auswirkungen auf ihr Leben zu vermeiden.

1 Hier geht der Autor vom angelsächsischen Raum aus, wo muslimische Bildungseinrich­tungen beziehungsweise Schulen keinen Exotenstatus haben, sondern Realität sind.