Flüchtling, syrisch, jung, dynamisch, muslimisch und weiblich. Eine Reportage durch mehrere Länder

Ausgabe 244

(iz). Ihre Städte wurden bombardiert, sie haben ihre Heimat verloren und das Letzte, das sie besaßen, verkauft oder verschenkt. Das Gepäck für die Reise ohne Rückkehr besteht aus einem kleinen Rucksack – und sie sind weiblich. Junge selbstbewusste syrische Frauen wagen die Reise nach Europa ebenso wie Männer. Sie planen die Reise selber und suchen sich den Schmuggler, der sie nach Europa bringt, selber aus. Die IZ traf eine Gruppe von Frauen auf der Reise nach Deutschland.

Der durchschnittliche Flüchtling kommt aus Syrien, ist jünger als 30 – und ein Mann“, hieß es in den vergangenen Wochen bei großen deutschen Online-Medien. „Wo sind all die Mütter und Töchter aus den Krisengebieten?“, schrieb zum Beispiel „Spiegel Online“. Wo auch immer diese Reporter hingeschaut haben, als sie ihre dramatischen Berichte über „die abgekämpften Überlebenden an Europas Mittelmeerküsten“ schrieben, sie brauchen allesamt eine neue Brille. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist die Hälfte der rund 50 Millionen Flüchtlinge weltweit weiblich und das UNHCR und das Kinderhilfswerk UNICEF sind sich einig darin, dass jede dritte Person, die auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommt, eine Frau ist. Rund 320.000 Menschen sind 2015 dort angekommen. Die meisten Frauen reisen mit ihren Familien nach Europa, aber viele reisen auch ohne. Sie bilden selber Gruppen oder schließen sich solchen an. Sie tauschen Pläne aus, vergleichen Kosten und bezahlen ihre Rechnungen selber. Das völlige Gegenteil also von dem, was viele Medien berichten.

Kein Asylstatus in der Türkei: nur „Gast“
Im vergangenen Juli treffen sich vier Freundinnen in der südtürkischen Stadt Gaziantep unweit der syrischen Grenze. Sie sind alle vier vor nicht allzu langer Zeit in der Türkei angekommen: Die Schwestern Rahaf und Hanadi flüchteten vor den Fassbomben aus dem Stadtteil Duma von Damaskus; die Schwestern Fasiha und Dialla aus Deir ez-Zor, einer Stadt, die täglich von der einen Seite vom Regime und von der anderen Seite von der Terrororganisation ISIS beschossen wird. Einige Zeit lang konnten sie sich in Gaziantep mit dem Ersparten über Wasser halten, doch sie haben hier in der Türkei keinen Asylstatus; sie sind lediglich „Gast“ in einer Stadt mit bereits 600.000 Flüchtlingen aus Syrien.

Arbeit gibt es keine, einen Studienplatz auch nicht und nach vier Jahren Krieg im Heimatland sehen alle vier die Zeit dahinschwimmen und die finanziellen Ressourcen immer knapper werden. Eine Weile haben sie noch gehofft, dass sich das Blatt in Syrien wendet, aber im Juli 2015 sieht die Zukunft brandschwarz aus. Wie viele andere auch, fangen sie an, sich in Facebook-Gruppen zu organisieren um ihre Flucht nach Europa zu planen. Unweit der syrischen Heimat ist es ein großer Schritt, nach Europa zu reisen. Es ist ein „one-way trip“, eine Reise ohne Rückkehr.

„‘Entwurzelt’ ist die ­richtige Bezeichnung“
„Es war hart und schmerzhaft“, erklärt Rahaf. „Es gibt kein Zuhause, wo man seine Sachen lagern könnte. Wir mussten alles verkaufen oder verschenken. Winterkleider, Möbel, Bücher, meine Gitarre, meinen Laptop und die einzelnen kleinen Erinnerungsstücke aus Damaskus, an denen ich noch sehr hing.“ „Mit dem Boot nach Griechenland bedeutet eine kleine Reisetasche als Reisegepäck. Mehr nicht. Ein Rucksack mit einer Hose, einem T-Shirt und zwei Kilo Datteln hatte ich dabei”, sagt Hanadi, Die Datteln gäben Energie und man müsse unterwegs kein Geld für Essen ausgeben.

Je 2.000 US-Dollar haben die vier Frauen für die Reise zusammengekratzt. Die Ankunft in der türkischen Küstenstadt Izmir sei schlimm gewesen, erinnern sich Dialla und Fasiha. Vor sich hätten sie das Meer gesehen. Und ein „zurück ins Nichts“ habe es nicht mehr gegeben, da sich ihr ganzer Besitz auf eine Tasche reduziert hätte, die sie bei sich trugen. „‘Entwurzelt’ ist die richtige Bezeichnung“, sagt Rahaf. „Es gab in diesem Moment keinen Ort auf der Welt, wo wir hingehörten“.

Passagiere selber ­ausgesucht
An einem Samstag kamen Rahaf, Hanadi, Fasiha und Dialla in Izmir an. Sie hatten via Social Media mit dem Schmuggler abgemacht, noch am gleichen Abend nach Griechenland rüber zu fahren. Doch daraus wurde nichts. „Wir hatten mit einer Gruppe Menschen aus Irak abgemacht das gleiche Boot zu nehmen“, erklärt Rahaf. Am Tag ihrer Ankunft ging die Meldung herum, dass Mazedonien alle Grenzen hermetisch abgeriegelt hatte. Daraufhin wollten die Iraker lieber noch warten. „Wir wollten an unserem Plan festhalten, uns fehlten aber genügend Passagiere“, sagt Hanadi. Und Rahaf ergänzt: „Ein Schmuggler schließt das Geschäft erst ab, wenn er mehr als 40 Menschen auf ein Gummiboot bringt, auch wenn das Boot nur Platz für 20 oder 25 hat.“

Somit mussten die Frauen auf der Suche nach Reisewilligen noch ganze acht Tage in Izmir ausharren. Sie mieten zwei Mal ein Appartement für zwei Tage, was sehr teuer ist; drei Tage verbringen sie in einem Park und zum Schluss bleiben sie, um sich versteckt zu halten, noch in einer „richtigen Absteige“, wie sie alle vier betonen. Alle Hotels in Izmir seien ausgebucht gewesen. An Passagieren für eine Überfahrt fehlt es in Izmir nicht. Im Stadtviertel Basmane wimmelt es nur so von Flüchtlingen und Schmugglern. „Es scheint, als ob sich hier alles nur um die Migration dreht“, erklärt Rahaf. Die Geschäfte seien voll mit Schwimmwesten oder wasserdichten Taschen für Mobiltelefone oder Dokumente.

Bezahlung im „Versicherungsgeschäft“
Der Schmuggler, mit dem die Frauen die Reise verabredet hatten, bekam zu diesem Zeitpunkt plötzlich Probleme mit der Polizei und so musste auch noch ein neuer Schmuggler gesucht werden. In Basame wird der Schmuggler Abo Zaid empfohlen. Die Frauen treffen ihn und er tönt professionell. Eine Nachfrage via Facebook bestätigt, dass es bei Abo Zaid „keine Unfälle auf hoher See“ gab. Dennoch trauen die Frauen keinem. Der Schmuggler versichert aber, dass er für das Waldstück – von wo aus sie ins Boot steigen – bezahlt hat und ebenfalls für die „Seeroute“, und gemeint sei damit die Küstenwache. Und somit kommen sie ins Geschäft. „Die Zahlungsart kann unterschiedlich sein“, erklärt Rahaf. Die meisten Leute würden zu einem „Versicherungsgeschäft“ gehen, das den Preis von 1.200 US-Dollar pro Person und eine Gebühr von 50 US-Dollar pro Person verlange. Kämen die Flüchtlinge gut in Griechenland an, telefonieren sie mit dem Geschäft in Izmir, sodass man den Schmuggler ausbezahle.

Eine andere Methode sei, das Geld einer der beiden Parteien vertrauten Person zu übergeben, die das „Deposit“ so lange behält, bis die Flüchtlinge sicher angekommen sind. Die schlechteste Methode sei das Bezahlen des Schmugglers beim Besteigen des Bootes, denn im Falle eines Unfalls, oder wenn man von der Küstenwache zurückgeschickt werde, sei auch das Geld weg, so beteuern die vier Syrerinnen, die sich für die erste Methode entschieden haben. Macht man eine ­kleine Rechnung mit der Anzahl Flüchtlinge, die bis August diesen Jahres die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland geschafft haben, dann liegt die Summe, die sich die Schmuggler in dieser Zeit eingestrichen haben bei fast 390 Mio. US-Dollar.

Reise ins Unbekannte – und unterwegs getrennt
In Izmir warten tausende Menschen auf die Möglichkeit „nach drüben“ zu kommen. „In jede Ecke von Izmir siehst du Menschen die samt ihrer Schwimmwesten auf der Strasse auf ein Zeichen ihres Schmugglers warten“, erzählt Rahaf. „Die Schmuggler erzählen einem nichts, alles wird geheim gehalten: der Abreisezeitpunkt, auf welcher Insel sie landen werden, und von wo aus sie in See gehen.“ Jedes Mal hätten sie eine Zeitangabe bekommen, die dann kurzerhand wieder geändert wurde. „Die Abreise verschiebt sich stets, zu keinem Zeitpunkt weißt du, ob es jetzt wirklich so weit ist oder nicht“, sagt Hanadi. Das sei besonders zermürbend, doch am achten Tag sei es so weit gewesen. Die Gruppe mit Frauen, Männern und Kindern kann aufbrechen.

Nach einer langen Busfahrt stechen die vier Syrerinnen zusammen mit rund 50 Anderen vom „unbekannten Waldstück“ an der türkischen Küste aus in See. Zusammengepfercht auf der Aluminium Bodenplatte des Bootes und nach vier Stunden Fahrt, die die Frauen lieber nicht beschreiben, kommen sie auf der kleinen Insel Agathonisi, südlich der bekannteren Insel Samos, an Land. Die griechische Küstenwache habe das Boot verfolgt, bis die Besatzung offenbar sicher war, dass die Insassen sicher an Land seien, so Fasiha und Dialla.

Von dort aus brechen die Frauen zu Fuß zur Inselhauptstadt auf und auch wenn sie schon am nächsten Tag mit einem Boot zur Insel Samos gebracht werden, wo sie sich registrieren müssen, so war der Fußmarsch von einem Tag ein kleiner Vorgeschmack auf die vielen Kilometer, die sie auf dem Weg nach Westeuropa noch laufend zurücklegen müssen. Hier müssen sich die vier Freundinnen verabschieden. Nur Rahaf und Hanadi schaffen es auf Anhieb ein Ticket für die Fähre nach Athen zu bekommen. Dialla und Fasiha gelingt das erst einige Tage später.

Der große Flüchtlingsstrom von ­Griechenland über Mazedonien, Serbien, Ungarn, nach Österreich und Deutschland war wochenlang die größte Schlagzeile in den Medien. Grenzen gingen auf und zu, Bilder von gigantischen Menschenansammlungen auf Bahnhöfen in Wien und München prägten die Titelseiten der Zeitungen in Europa. Die Strapazen der „Migranten“, wie sie genannt werden, waren groß von dem Moment an, als sie europäischen Boden erreichten. Unterdessen sind Rahaf und Hanadi schon von einer Erstaufnahmeeinrichtung in Deutschland weiter geschickt worden in eine kommunale Unterbringung für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein. Fasiha und Dialla schafften das gleiche und sind in Nordrhein-Westfalen. Alle vier haben bereits angefangen Deutsch zu lernen, denn sie wissen, dass es ein „zurück ins Nichts“ nicht gibt.

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