Forscher sieht nach Karlsruher Urteil Reformbedarf bei der Religionsvielfalt

Münster (exc). Nach dem Karlsruher Urteil zum ZDF-Staatsvertrag sollten nach Experteneinschätzung dringend auch Muslime und Vertreter anderer religiöser Minderheiten in die Räte der öffentlich-rechtlichen Sender aufgenommen werden. Die religiöse Pluralisierung und Säkularisierung in der Gesellschaft sei an den Gremien bislang „vorübergegangen“, ihre Zusammensetzung befinde sich auf dem Stand der Nachkriegszeit, schreibt Kommunikationswissenschaftler Dr. Tim Karis vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ auf www.religion-und-politik.de. „In den Räten spiegelt sich jene für das deutsche Staatskirchenverhältnis typische Asymmetrie, die historisch nachvollziehbar ist, in der heutigen, religiös vielfältigen Gesellschaft jedoch einer Privilegierung der christlichen Großkirchen gleichkommt. Muslime – als größte religiöse Minderheit im Land – sind die Leidtragenden.“

Karis untersucht in seinem aktuellen Projekt den medienpolitischen und redaktionellen Umgang des öffentlichen Rundfunks mit religiöser Vielfalt und vergleicht ihn mit den Niederlanden und Großbritannien. Das Bundesverfassungsgericht hatte am Dienstag in einem Grundsatzurteil angeordnet, die Zusammensetzung des ZDF-Fernsehrats und -Verwaltungsrats zu ändern, den Anteil der „staatsnahen“ Personen auf ein Drittel zu reduzieren und den der gesellschaftlichen Gruppen auf zwei Drittel zu erhöhen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll die in der Gesellschaft vertretenen Meinungen „facettenreich widerspiegeln“.

Vorbild Niederlande
Der Reformbedarf zeigt sich laut Kommunikationswissenschaftler Karis „besonders mit Blick auf die fehlende Religionsvielfalt in den Gremien“. Bislang seien mit einer Ausnahme nur Repräsentanten der katholischen und evangelischen Kirche und der jüdischen Gemeinden vertreten. Um die Religionsvielfalt in der Gesellschaft gemäß dem Urteil abzubilden, sollte darüber diskutiert werden, ob neben Vertretern des Islams auch solche anderer Weltreligionen, der Freikirchen sowie weltanschaulicher Gruppen wie der Humanisten aufgenommen werden. „Die Medienpolitik wird pragmatische Lösungen finden, die sich an der Größe der Gruppen oder ihrem Einfluss auf Wählerstimmen orientieren.“ Für eine differenzierte Lösung könnten die Niederlande einen Orientierungspunkt bieten. „Sie berücksichtigen auch mitgliederarme Gemeinschaften, sodass dort ein muslimischer, buddhistischer, hinduistischer, jüdischer, humanistischer, katholischer und evangelischer Sender existieren, die je mehrere Programmstunden pro Woche im öffentlichen Rundfunk ausstrahlen.“

Das niederländische Modell, das Sendeplätze direkt vergibt und ohne Rundfunkräte auskommt, lässt sich nach Einschätzung von Karis allerdings nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. „Es wäre mit Widerstand zu rechnen, da sich in öffentlichen Rundfunksystemen gesellschaftliche Identitäten verdichten.“ Wenn künftig über die Rundfunkaufsicht entschieden werde, sei somit auch zu debattieren, „ob die deutsche Gesellschaft sich (noch) als christlich oder christlich-jüdisch begreift, ob sie vermehrt säkular-laizistischen Modellen zuneigt oder ob sie pluralistische Ideale verinnerlicht hat. Über diese Frage hat Karlsruhe freilich nicht entschieden.“ Dahinter liege auch die Frage, wem Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden solle.

Der Wissenschaftler hebt hervor, dass bislang nur der Staatsvertrag des Südwestrundfunks (SWR) einer weiteren Religionsgemeinschaft einen Platz im Rundfunkrat eingeräumt. „Bis 2013 war dieser einem freikirchlichen Vertreter vorbehalten; mit der jüngsten Novellierung des SWR-Staatsvertrages zum Jahresbeginn wurde dies zugunsten der muslimischen Verbände geändert.“ Die Neuregelung sei auf Ablehnung der Freikirchen gestoßen, die folgende politische Debatte schnell wieder verebbt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts könne der neue SWR-Staatsvertrag nun jedoch als Vorbild herangezogen werden, da er sich erstens durch viel Staatsferne auszeichne. „Besonders markant ist der Verzicht der rheinland-pfälzischen Landesregierung auf einen Sitz zugunsten der Sinti und Roma.“ Zweitens folge der Vertrag durch die Aufnahme des Islam-Vertreters dem Gebot der Vielfalt.

Mangel an Medienexpertise
Der Beitrag „Muslime in den Rundfunkrat? Über den Zusammenhang von Medienpolitik und religiöser Vielfalt“ findet sich in der Rubrik „Ansichtssachen“ der Website des Exzellenzclusters. Er zeigt, dass die Institution der Rundfunkräte international als Vorbild angesehen wird, da die Kommunikationswissenschaft sie generell als gelungene Zusammenarbeit von politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren bei der Regulierung des Mediensektors ansieht. Kritisch sehe die Forschung hingegen nicht nur die fehlende Staatsferne und Vielfalt, sondern auch einen Mangel an medienspezifischer Expertise der Gremienmitglieder. Eine Professionalisierung sei hier dringend notwendig. Der Beitrag von Karis legt zudem aus religionssoziologischer Sicht dar, wie sich die religiöse Landschaft seit dem Zweiten Weltkrieg durch Pluralisierung und Säkularisierung verändert hat.

Tim Karis ist Mitglied des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und Koordinator der Interdisziplinären Nachwuchsgruppe „Religiöse Pluralität“, die am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der WWU angesiedelt ist. Zuvor legte er eine Promotionsstudie zur Islamdarstellung in der ARD-Sendung „Tagesthemen“ vor, die unter dem Titel „Mediendiskurs Islam“ im Verlag Springer VS erschien. (vvm)