Furcht vor dem Zerfall Syriens

Berlin (GFP.com). Debatten in Berlin und weiteren westlichen Hauptstädten über eine mögliche Zerschlagung des syrischen Hoheitsgebiets begleiten die jüngsten militärischen Erfolge der Regierung in Damaskus. Syrien sei faktisch längst in drei Teile zerfallen, urteilen Außenpolitik-Spezialisten in Washington: Während die Assad-Regierung zur Zeit ihre Kontrolle über das Zentrum des Landes und den Küstenstreifen zu konsolidieren suche, herrschten orientierte Aufständische über weite Teile Ost- und Nordsyriens. Hinzu kämen als dritte Region die kurdisch dominierten Regionen im Nordosten des Landes.

Im Hinblick auf diese schlägt nun die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vor, einer Aufspaltung Syriens zuzustimmen. Langfristig könnten die kurdischsprachigen Gebiete Syriens und des Irak in eine “föderalisierte” Türkei eingegliedert werden, heißt es unter Bezug auf “Kenner” der türkischen Außenpolitik. Damit stehe die staatliche Ordnung des Nahen Ostens, die auf dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 basiere, vor der Auflösung. Eine staatliche Neugliederung erlaube es, im Nahen Osten ein “sunnitisch-säkulares Gegengewicht gegen einen schiitischen Bogen” – Iran sowie seine Verbündete – zu etablieren. Die SWP rät dazu, entsprechende Verhandlungen zwischen der Türkei und kurdischen Organisationen “nach Kräften” zu unterstützen.

Dreigeteilt
Überlegungen über eine territoriale Aufspaltung Syriens, wie sie zur Zeit auch in Berlin angestellt werden, werden in diesen Tagen vielleicht am offensten von Außenpolitik-Spezialisten in den USA thematisiert. Syrien sei nicht im Zerfall begriffen, es sei bereits zerfallen, äußert Andrew J. Tabler, ein Mitarbeiter des Washington Institute for Near East Policy: “Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das alles wieder zu einem Stück zusammensetzen lässt.” Joseph Holliday, Experte des Washingtoner Institute for the Study of War und einstiger Intelligence Officer der U.S. Army im Irak und in Afghanistan, will eine militärische Verfestigung erkennen.

Demnach seien die Regierungstruppen zwar durch frühere Desertionen geschwächt, bestünden heute aber weitgehend aus loyalen Assad-Anhängern. Sie seien vor allem darauf konzentriert, die Kerngebiete Syriens um Damaskus und Homs und die alawitisch dominierten Küstengebiete unter ihre Kontrolle zu bekommen, hätten dafür jedoch die abgelegenen Teile des Landes insbesondere im Osten und im Norden faktisch aufgegeben. Alles in allem seien schon heute in groben Umrissen drei Territorien erkennbar: Eine von Assad kontrollierte, mit Iran und der libanesischen Hizbollah kooperierende Region (“schiitisch”), ein von meist islamistischen Milizen beherrschtes Gebiet (“sunnitisch”) und zudem – im Nordosten – ein “kurdischer” Landesteil.

Das geringere Übel?
Auch in Berlin werden Spekulationen über eine Zerschlagung des syrischen Territoriums ventiliert. Der deutsche Außenminister “fürchte” die “möglichen Folgen eines Zerfalls des Landes”, lässt das Auswärtige Amt verlauten; ein “Übergreifen” des Syrien-Kriegs auf Jordanien sei bei einer solchen Entwicklung nicht auszuschließen. Auf die Frage, ob angesichts der eskalierenden Brutalität der Kämpfe ein “Zerfall Syriens” nicht “das geringere Übel” sei, warnte jetzt eine der einflussreichsten Tageszeitungen: “Dann drohte allerdings, dass radikale Islamisten einen eigenen Kalifatskanton im Norden des Landes errichten.”

Mit Blick auf die jüngsten militärischen Erfolge der Damaszener Regierung – zuletzt im südwestsyrischen Qusair – werden jedoch weiterhin Mutmaßungen über den “Zerfall” Syriens “in ethnische Enklaven” angestellt. Unlängst hat mit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erstmals ein deutscher Think-Tank öffentlich in Betracht gezogen, einer Teilung Syriens zuzustimmen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine Untersuchung der Entwicklung in den kurdischen Landesteilen im Nordosten des Landes und eine Analyse der türkischen Reaktionen darauf.

Gespräche mit Öcalan
In ihrer Analyse schildert die SWP zunächst den Kurswechsel der türkischen Regierung gegenüber der kurdischsprachigen Sezessionsbewegung und vor allem der PKK. In der Tat hat Ankara bereits Ende 2012 Gespräche mit der PKK und mit ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan gestartet. Inzwischen ist ein Waffenstillstand in Kraft.

Wie die SWP berichtet, sollen die kurdischsprachigen Bevölkerungsteile umfassende Autonomierechte erhalten, während Öcalan und die PKK dafür auf die Gründung eines eigenen Staates “Kurdistan” verzichten und ihren Verbleib in einer föderaleren Türkei garantieren. Die SWP weist darauf hin, dass für den beschriebenen Kurswechsel gegenüber der PKK “außenpolitische Bedrohungen und Chancen eine entscheidende Rolle” spielen. Dabei gehe es um die kurdischsprachigen Minderheiten in Syrien und im Iran.

Wirtschaftliche Integration
Wie die SWP-Analyse feststellt, stehen große Teile der kurdischsprachigen Bevölkerung Syriens der PKK sehr nahe. Nachdem Ankara mit seinem Bemühen gescheitert sei, PKK-kritische Kräfte in Nordsyrien zu stärken, gerate die Türkei von dort aus unter Druck: PKK-nahe kurdische Rebellen hätten weite Teile des Gebiets unter ihre Kontrolle gebracht. Dieser “Bedrohung” stünden gewaltige “Chancen” in den kurdischsprachigen Gebieten des Nordirak gegenüber.

Der Nordirak besitze nicht nur formal, sondern auch tatsächlich weitreichende Autonomie und beanspruche die umfangreichen Erdöl- und Erdgasreserven dort, auch im umstrittenen Kirkuk, für sich. Ankara habe nach dem Irak-Krieg des Jahres 2003 begonnen, eng mit dem autonomen Nordirak zu kooperieren; heute profitiere es wirtschaftlich davon. “60 Prozent aller im Nordirak registrierten ausländischen Firmen kommen aus der Türkei”, bilanziert die SWP. “Als Exportdestination für die Türkei” liege der Irak “heute nach Deutschland bereits auf dem zweiten Platz”. Vor allem aber verfüge der – kurdischsprachige – Nordirak über “die Energiequellen, die der Türkei fehlen”. “Nicht ohne Grund” ziele Ankara daher auf eine “wirtschaftliche Integration”.

Sykes-Picot überdenken
Unter Bezug auf türkische Quellen spricht die SWP mit Blick auf die kurdischsprachigen Gebiete der Türkei, Syriens und des Irak von einer “Dysfunktionalität bestehender Nationalstaaten und ihrer aktuellen Grenzziehungen”. So habe der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu vor kurzem erklärt, es sei heute “an der Zeit”, die 1916 im Nahen Osten geschaffenen “künstlichen Grenzen zu überdenken”. Gemeint ist das Sykes-Picot-Abkommen, auf dem auch der territoriale Bestand des heutigen Syrien basiert.

Ankara wolle “diese fremdbestimmte Periode in ihrer Geschichte und der des Nahen Ostens beenden”, wird Davutoğlu von der SWP zitiert. Der Außenminister behaupte zwar, er stelle die bestehenden Grenzen nicht in Frage. “Ihm nahestehende Kenner seiner Politik” sprächen allerdings ausdrücklich “von der Möglichkeit, dass in fünf bis zehn Jahren die kurdischen Gebiete des Irak und Syriens Teil einer politisch vollkommen neu strukturierten föderalen Türkei sein könnten”. Die SWP verweist auf Äußerungen des PKK-Anführers Öcalan, die offensichtlich damit konform gehen: “Türken und Kurden” seien ihm zufolge “die zentralen strategischen Kräfte im Nahen Osten”. Sie müssten bei der Demokratisierung der Region eine “Vorreiterrolle” spielen – und die “autoritären Nationalstaaten”, die “die Imperialisten” im Nahen Osten errichtet hätten, jetzt überwinden.

Gegengewicht gegen Iran
Die SWP benennt schließlich die geostrategischen Ziele der in Betracht gezogenen Operation. Eine Zerschlagung Syriens und des Irak mit anschließender Einverleibung der kurdischen Gebiete in die Türkei schüfe demnach ein “sunnitisch-säkulares Gegengewicht gegen einen schiitischen Bogen, der von Iran, Syrien und der libanesischen Hisbollah gebildet wird”. Damit wäre es möglich, den aufstrebenden, sich – anders als Saudi-Arabien – dem Westen nicht unterordnenden Iran samt seinen regionalen Verbündeten niederzuhalten – auf Kosten einer Zerschlagung Syriens und des Irak.

Entsprechend rät die SWP mit Blick auf die Gespräche, die Ankara gegenwärtig mit verschiedenen kurdischen Verbänden führt: “Europäische Politik sollte den Verhandlungsprozess (…) nach Kräften unterstützen”. Das Konzept ist keineswegs neu: Militärkreise in Washington zeichneten schon 2006 entsprechende Landkarten, zogen damals allerdings noch keine föderale Türkei, sondern vielmehr einen eigenen Staat “Kurdistan” in Betracht.