Gefahren für die Freiheit im Netz

Ausgabe 294

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Armeen von Online-Fans, Trollen und automatisierte Bots – die autoritären Herrscher und Populisten der Welt nutzen zunehmend das Netz, um Gegner zu überwältigen, die öffentliche Meinung für sich einzunehmen und Wahlen zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das sind Kernerkenntnisse einer neuen Studie. Von James Reinl

(IPS). Der Bericht „Freedom on the Net“, zusammengestellt von der US-amerikanischen Forschungsgruppe Freedom House, bestätigt die Befürchtungen vieler InternetaktivistInnen. Er zeichnet ein düsteres Porträt darüber, wie das Netz Demokratien belastet. Das Anfang November veröffentlichte Dokument stellte fest, dass mehr als die Hälfte aller 3,8 Milliarden Internetnutzer in Staaten leben, die das Netz zensieren und regierungstreue Trolle nutzen, um den virtuellen Raum zu manipulieren.

Mike Abramowitz, Präsident von Freedom House, warnte davor, dass sich vor diesjährigen Wahlen in 24 Ländern Online-Propaganda und Desinformationen ausbreiteten. Die Gruppe untersuchte die virtuelle Freiheit in 65 Ländern, in denen 87 Prozent aller weltweiten Webnutzer beheimatet sind. „Regierungen stellen fest, dass Propaganda in sozialen Medien besser funktioniert als Zensur“, sagte er. „Autoritäre und Populisten ­beuten weltweit sowohl die menschliche Natur als auch Computeralgorithmen aus, um die Wahlurne zu erobern. Dabei setzen sie sich rücksichtslos über Regeln hinweg, die freie und faire Wahlen sicher­stellen sollen.“

Der Bericht beleuchtet namentlich Brasilien, wo Jair Bolsonaros Wahl zum Präsidenten im Oktober 2018 zu neuen Gerüchten gegen Minderheiten und manipulierten Fotos führte, die von seinen rechtsgerichteten Anhängern über YouTube und WhatsApp verbreitet worden seien. In Ägypten blockierte die Regierung von Präsident Abdel Fattah el-Sisi rund 34.000 Webseiten. Der Grund dafür war die Unterdrückung von Debatten über die Frage, ob es ihm durch ein Referendum im April 2020 erlaubt werden soll, die Macht bis Ende 2030 in Händen zu halten. Hunderttausende Online-Trolle verbreiteten gefälschte Nachrichten für Wechselwähler im Vorfeld der indischen Wahlen im April und Mai dieses Jahres. Gleichzeitig übermittelte die App NaMo von Premierminister Narendra Modi mutmaßlich Nutzerdaten an private Analytikfirmen.

Die weltweit größten Volkswirtschaften – die Vereinigten Staaten und China – werden in dem Report besonders in Augenschein genommen. In den USA verbreiteten Online-Trolle „Desinfor­mation“ während der Zwischenwahlen im November 2018. Genau das gleiche haben sie 2016 während der Präsidentschaftswahlen gemacht, die Trump an die Macht brachten. Ähnlich habe während der Nominierung von Brett Kavanaugh für den Obersten Gerichtshof stattgefunden. Im gleichen Zeitraum verlangen Beamte der US-Einwanderungsbehörden Zugang zu Telefonen und Computern von BesucherInnen. Sie observieren zusätzlich die Online-Aktivitäten von Einwanderern und gingen dabei „mit geringer Aufsicht oder Transparenz vor“, heißt es im Bericht.

China bleibt der „weltschlimmste Schänder der Freiheit im Internet“. Diesen Rang hält Peking seit vier aufeinanderfolgenden Jahren inne. Hier treibt eine Reihe von Online-Kommentatoren, die als „50 Cent Army“ bekannt wurde, das Regierungsnarrativ im Netz voran. Vor dem 30. Jahrestag des Tianamen-Massakers steigerte Peking die Repressi­on von Online-Nutzern. Angesichts der regierungskritischen Proteste in Hongkong sei die politische Kontrolle noch enger geworden.

Adrian Shahbaz, Forschungsdirektor bei Freedom House für Technologie und Demokratie, warnte, dass sich auch ­Regierungen kleinerer Volkswirtschaften jetzt groß angelegte Überwachungs­programme für „fortgeschrittene soziale Medien“ leisten können. Im vergan­genen Monat verklagte Facebook die ­israelische Überwachungsfirma NSO Group, weil sie den WhatsApp-Messaging-Dienst ­genutzt hatte, um die Telefone von rund 1.400 Dissidenten, Journalisten, Diplomaten, Beamten und anderen Kunden (die als Regierungen und Spionagediensten verstanden werden) zu hacken.

„Früher für die mächtigsten Geheimdienste der Welt vorbehalten, machen Spionagewerkzeuge aus dem Bereich von Big Data ihren Weg um die Welt“, sagte Shahbaz. „Selbst in Staaten mit beträchtlichen Sicherungen für grundlegende Freiheiten gibt es bereits Berichte über Missbräuche.“

Experten merken an, dass offizielle Vertreter in 47 Staaten, die mit ausgeklügelten Werkzeugen für Online-Spionage ausgestattet sind, zwischen Juni 2018 und Mai 2019 Webnutzer verhaftet ­hätten für das Posten von politischen, sozialen oder religiösen Nachrichten.

„Die Zukunft der Freiheit im Internet beruht auf unserer Fähigkeit, soziale ­Medien zu korrigieren“, sagte Shahbaz. „Da es sich hauptsächlich um amerikanische Plattformen handelt, müssen die USA führend bei der Förderung von Transparenz und Rechenschaftspflicht im digitalen Zeitalter sein. Nur so kann verhindert werden, dass das Internet zu einem Trojanischen Pferd für Tyrannei und Unterdrückung wird.“