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Gegenstrategien reichen noch nicht aus

Ausgabe 297

Foto: Menderes Singin, Twitter

(iz). Nicht erst der Terror von Hanau hat die Existenz von rechtsextremer Gewalt gegen ausgesuchte Minderheiten in Deutschland deutlich gemacht. München, Halle sowie alltägliche Vorfälle im Alltag der Betroffenen machen das deutlich. Hierzu sprachen wir mit Murat Gümüs, dem amtierenden Generalsekretär des Islamrats. Er beklagt unter anderem, dass lange Zeit nicht auf die Warnungen von Muslimen gehört wurde.

Islamische Zeitung: Lieber Murat Gümüs, kurz nach der Aufdeckung eines rechtsterroristischen Netzwerkes kam es nun im hessischen Hanau zu einem terroristischen Angriff auf Menschen, die der Rechtsterrorismus ins Visier genommen hat. Was ist Ihre Einschätzung?

Murat Gümüs: Anschläge wie in Hanau sind leider nicht neu. Der Anschlag im Münchener Einkaufszentrum mit neun Opfern 2016 verlief ähnlich. Auch beim Bombenanschlag auf die DITIB-Moschee in Dresden hatte der Attentäter mehrere Tote zumindest in Kauf genommen.

Was sich jedoch zwischen 2016 bis heute geändert hat, ist die steigende Frequenz von rassistisch motivierten Angriffen oder Drohungen. Allein 2019 gab es über 120 Angriffe oder Drohungen, darunter Bombendrohungen auf Moscheen.

Beinahe täglich werden Frauen mit Kopftüchern oder solche, die als Muslime wahrgenommen werden, Opfer von Übergriffen. Menschen, die sich für eine offene Gesellschaft einbringen, werden bedroht oder wie im Fall von Herrn Lübcke heimtückisch ermordet. Die Bilder nach dem schrecklichen Angriff in Halle haben wir alle noch gut in Erinnerung.

Wir machen schon seit Langem auf die Zuspitzung der Lage aufmerksam. Unsere Mahnungen wurden überhört. Am Ende war es leider nur eine Frage der Zeit, bis eine solche Tat wiederholt wird. Und die jüngste Aufdeckung des rechtsterroristischen Netzwerks zeigt: die Wahrscheinlichkeit von weiteren Angriffen auf Minderheiten ist so hoch wie noch nie!

Islamische Zeitung: Politik und Öffentlichkeit beeilten sich mit Bekundungen von Trauer und Bestürzung. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, um angemessen auf das Ereignis aber auch auf seine zugrundeliegende Basis zu reagieren?

Murat Gümüs: Wir beobachten schon seit Längerem einen Anstieg der Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen, Personen mit Migrationshintergrund, Muslime, Juden oder Sinti und Roma. Diese werden jedoch häufig einfach ­unter dem Begriff Rassismus oder ­Fremdenfeindlichkeit subsummiert.

Für die Bekämpfung dieser Probleme ist das nicht dienlich. Denn: sie verdecken so die eigentlichen Probleme und verhindern ihre klare Benennung. Das wären im aktuellen Zusammenhang ­Xenophobie, antimuslimischer Rassismus. Wenn man diese Probleme nicht beim Namen nennt, dann existieren sie auch nicht oder werden nicht als Problem wahrgenommen. Erst die Benennung kann zur Bekämpfung beitragen.

Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung gibt es viele. Sie werden jedoch nicht mit der nötigen Konsequenz angewandt. Aber zu aller erst muss der Weg für die Gründung und öffentlichen Förderung einer ständigen Kommission zur Bekämpfung des antimuslimischen Rassismus geebnet werden. Hier können dann die nötigen Schritte in Richtung Bildung, Beruf, Medien, Politik, Sicherheitsbehörden usw. erarbeitet und geäußert werden.

Islamische Zeitung: Welche Verbindung besteht Ihrer Meinung nach zwischen den „islamkritischen“ Diskursen der letzten Jahre und Taten wie denen in Hanau?

Murat Gümüs: Neben der Darstellung eines realitätsfremden und negativen Islambildes war ein weiteres wesentliches Ergebnis der vermeintlichen „Islamkritik“ die erfolgreiche dauerhafte Markierung von Muslimen als Fremde. Insbesondere ihren Protagonisten im weitesten Sinne ist es gelungen, dass Muslime in dritter oder vierter Generation hinweg als Fremde wahrgenommen werden.

Ein weiteres Kernelement des islamkritischen Standardrepertoires ist das Szenario, dass Muslime irgendwann die Mehrheit bilden würden, wenn man sie denn nicht stoppt. Dieses verzerrte Bild löst Abwehrreaktionen jener aus, die sich oder ihre Privilegien gefährdet sehen. Im äußersten Fall wird sogar Gewalt angewandt. Gegenstrategien gibt es zwar, sie sind jedoch unzureichend und werden häufig auch von den „Parteien der Mitte“ selbst torpediert, indem zum Beispiel ambivalente Themensettings vorgenommen werden. Weil man bei der Umsetzung der Gegenstrategie nicht konsequent bleibt, setzt sich häufig die Hetze durch, weil sie entschlossener verfolgt wird.

Islamische Zeitung: Was können und müssen die entsprechenden Behörden nun konkret tun?

Murat Gümüs: Die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden scheinen sich den Entwicklungen auf dem rechten Spektrum noch nicht angepasst zu haben. Die Ermordung Walter Lübckes, die Anschläge in Halle und Hanau und die immer noch andauernden Bombendrohungen gegenüber Moscheen legen diesen Schluss nahe. Diese Schieflage muss korrigiert werden.

Weiter müssen sie sich endlich ernsthafte Gedanken darüber machen, wie sie besonders gefährdete Gruppen in der Gesellschaft wie Muslime, Juden, Flüchtlinge, usw. besser schützen ­können. Bis jetzt beschränkte sich ihre Unterstützung für Muslime und Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund darin, dass man ihnen Überwachungskameras für ihre Moscheen empfahl. Die meisten haben jedoch ­bereits Kameras angebracht.

Es darf nicht dabei belassen werden, dass Sicherheitsbehörden den gefährdeten Gruppen einfach nur empfehlen, wie sie sich selbst besser schützen können, sondern die Sicherheitsbehörden müssen Pläne und Strategien ent­wickeln, wie sie selber diese Gruppen besser schützen können. Und das kann sich nur in einem Dialog mit den Betroffenen entwickeln. Falls erforderlich müssen dafür Gelder bereitgestellt werden. Die Sicherheit dieser Menschen ist und bleibt Aufgabe des Staates.

Islamische Zeitung: Lieber Murat Gümüs, danke für das Gespräch.