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Geht es noch um Allah?

Ausgabe 265

Foto: Max Pixels

(iz). Die Aufgabe des Propheten ist im Qur’an deutlich beschrieben. Dort lesen wir in der Sure Al-Dschumu’a (62): „Er ist es, Der unter den Schriftunkundigen einen Gesandten von ihnen hervorgebrachte, der ihnen Seine Zeichen vorträgt, sie kultiviert und sie das Buch und die Weisheit lehrt.“ In einer weiteren Sure lesen wir: „Wahrlich war Gott den Gläubigen gegenüber wohltätig, indem Er unter ihnen einen Gesandten von ihnen hervorgebrachte, der ihnen Seine Zeichen vorträgt, sie kultiviert und sie das Buch und die Weisheit lehrt.“ Der Qur’an, die Kultivierung des Selbst und die prophetische Weisheit haben wiederum zum Ziel, die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer zu stärken. In dieser Beziehung steht der Mensch mit all dem, was sein Menschsein ausmacht, im Zentrum.
Der Prophet zeigte uns durch sein Wirken, dass man nicht von allen Menschen das Gleiche verlangen kann. In seiner Gemeinde fand man die unterschiedlichsten Menschen, mit denen er auch verschiedenartig umging. Der Prophet berücksichtigte das Vermögen eines jeden; denn er war an Menschen interessiert und nicht an abstrakten Ideen.
Zahlreiche Überlieferungen bezeugen, wie manchmal Beduinen zu ihm kamen und mit ihm nur für eine kurze Zeit verweilten. Sie lernten von ihm nur bestimmte Grundlagen, lebten dann ihr Leben weiter und sahen ihn vielleicht nie wieder. Sie wurden weder mit Geboten und Verboten überschüttet. Noch verlangte der Prophet von ihnen eine komplette Umgestaltung ihres Lebens. Die Beziehung zu Gott war von Gelassenheit und vor allem Natürlichkeit begleitet.
Schaue ich mir aber heute an, wie über die prophetische Botschaft gesprochen wird, dann frage ich mich: Wo bleiben überhaupt Gott und Sein Gesandter? Die politische Idee im breiten Sinne des Wortes hat nicht nur den Menschen sondern auch Gott und Seinen Propheten ersetzt. Nicht mehr die Beziehung zu Gott und die Verwirklichung des Menschseins sind zentral, sondern die Verwirklichung der Idee.
Politische Ideen, wie der Nationalismus, Feminismus, Säkularismus, Konservatismus, Liberalismus, Antikolonialismus oder Antirassismus, werden krampfhaft mit der prophetischen Botschaft vermengt, sodass Muslimsein nur als Träger in dieser Konstellation dient. Im Vordergrund steht stets die politische Idee. Politische Ideen brauchen ihre Gegensätze. Sie brauchen eine Dialektik, dank der sie existieren können. Wird diese Dialektik auf den Glauben projiziert, verdirbt man den Glauben und die Beziehung zu Gott mit Machtkämpfen. Denn man wird ständig auf der Suche nach dem Anderen – der im Kontrast zu sich selbst steht – sein, sodass man die eigenen Gedanken bestätigen und ihnen eine Daseinsberechtigung verleihen kann.
Islam (was eigentlich Hingabe bedeutet und nicht als Namen einer Religion vom Propheten verstanden war, da es damals das Konzept von Religion nicht mal gab) wird heute wie ein Wesen außerhalb von uns imaginiert, ja wie ein Kuchen, von dem jeder einen Anteil haben will. Manche denken, sie besitzen diesen Kuchen. Manche gehen noch weiter und wollen im Namen ihrer Ideologie den Kuchen „Islam“ besitzen. In dem Moment, wo allerdings eine Person „den Islam“ sich so vorstellt, als ob er etwas außerhalb ihrer Selbst wäre, dann hat sie längst die Kategorien der Moderne und des Säkularismus verinnerlicht. Auch dann, wenn sie sich als „konservativ“ oder „Traditionarier“ begreifen würde.
Es geht heute nicht mehr darum, die Liebe zu Gott und zu Seinem Propheten zu verwirklichen, den Menschen von dieser Liebe zu erzählen, für die Menschen da zu sein und ich meine mit Menschen alle Menschen, genauso wie der Prophet auch für alle Menschen da war und für sie gesandt war. Nein, man geht heute mit seinen Mitmenschen hart ins Gericht, nach dem Motto „wie du mir, so ich dir“. Aber gerade jener, der dem Propheten folgen will, sollte die Last und die Belästigung ertragen können, mit einem Auge der Gnade und Barmherzigkeit auf die Welt blicken und sanftmütig auch mit jenen sein, die ihn hassen.
Wir leben in Zeiten, in denen der Glaube schon fast ein Wunder ist. Man soll sich über jeden freuen, der überhaupt noch von Gott spricht. Die eigentliche Frage ist, was wir überhaupt wollen? Wollen wir auf Kosten von Ideen und Ideologien das Erbe des Propheten mit Füßen treten, oder wollen wir seine Gnade in uns tragen und an andere weitergeben? Mit Spott, gnadenlosem Aktivismus oder Überheblichkeit schrecken wir die Menschen nur ab.
Der Text erschien am 20. Juni auf dem Blog des Autors.