Gemeinschaft – und die Einsamkeit

Ausgabe 289

Foto: Freepik.com

Eine Epidemie der Einsamkeit und inneren ­Leere fegt über die westliche Welt. Sie wird von Ärzten und Fachleuten zunehmend als ein ­Problem der sozialen Gesundheit betrachtet. Es wird befürchtet, dass das Phänomen zum Anstieg von Krankheiten – von Herzanfällen bis Krebs – führen kann. Eine Studie im Auftrag des ­britischen Magazins „The Economist“ fand im September 2018 heraus, dass sich 22 Prozent aller Amerikaner und 23 Prozent aller Briten immer oder häufig alleine fühlten. In Korea haben junge Leute damit angefangen, sich beim Essen zu filmen, sodass sie virtuell mit anderen essen können.

Während die Ursache von Einsamkeit häufig dem Zusammenbruch traditioneller Familienstrukturen zugeschrieben wird, blicken die ­meisten selten weiter. Die wenigsten sprechen den weitverbreiteten Individualismus und seine Wurzeln in ideologischen Weltbildern der ­Moderne an.

Bis in die jüngste Vergangenheit waren erweiterte familiäre und soziale Netzwerke für die Aufrechterhaltung der psychischen und spir­ituellen Gesundheit des Einzelnen und seiner Gemeinschaften von entscheidender Bedeutung. Einsamkeit als soziales Phänomen war praktisch unbekannt. Einer Studie des US-Meinungs­forschungsinstituts Pew Research zufolge fühlen sich 28 Prozent derjenigen, die mit ihrem Fami­lienleben unzufrieden sind, oft einsam. In der Studie wird weiter ausgeführt, dass jeder fünfte US-Bürger, der seine Nachbarn nicht kennt, angibt, sich die meiste Zeit oder die ganze Zeit einsam zu fühlen.

Diese Phänomene sind Symptome einer umfangreicheren Pathologie. Eine sehr individualistische Kultur, die die Rechte, Bedürfnisse und Ziele des Einzelnen weit über das Soziale stellt, setzt die am stärksten gefährdete Gesellschaft – insbesondere ältere Menschen und Kinder – körperlicher und seelischer Vernachlässigung aus. Im Islam hingegen wird das zeitlose Konzept der menschlichen Natur und des Bewusstseins angesprochen. Das ist unser natürlicher Schöpfungszustand (Fitra). Wir haben die Fähigkeit, die offenkundige Wirklichkeit unserer Existenz zu erkennen. Der Wahrheit Allahs als unserem Herrn und Schöpfer anzuerkennen – und sie zu erfüllen. Das ist unsere Pflicht als Sein Sachwalter auf der Erde gegenüber dem Rest der Schöpfung.

Die metaphysische Tradition des Islam leugnet die menschliche Natur nicht. Der Mensch ist durch sie von der Abhängigkeit von seinen diesseitigen Wünschen befreit und richtet seinen inneren Blick auf Den, Der sein Dasein selbst erhält. Unsere ultimative Befriedigung kann nur durch unseren Dienst an Allah erreicht werden.

Unsere Tradition erkennt die Rechte und Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft an. Nichts davon wird zu Ungunsten des anderen vernachlässigt. Als solcher beruft sich der Muslim in seinen Beziehungen nicht ausschließlich auf seine Rechte, sondern behält die eigenen Verpflichtungen gegenüber anderen im Blick. Das Gleiche gilt für seine Rechenschaftspflicht gegenüber Allah. Es geschieht zu unserem Nachteil, dass wir unsere unmittelbaren und erweiterten sozialen Bindungen im Namen der individuellen Freiheiten aufgeben. Abdalhakim Murad, der bekannte Gelehrte und Denker, erklärt hierzu: „Der moralische Zusammenhalt eines Großteils der Scharia kann nur verstanden werden, wenn wir erkennen, dass sie ein Familienmodell voraussetzt“.

Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn ­segnen und ihm Frieden geben, hielt seine ­Gefährten vom einsamen Reisen oder der Isolat­ion ab. In seinem Kommentar dazu sagte der bekannte Qur’ankommentator At-Tabari: „Dies ist Entmutigung in Form von Disziplin und Anleitung, da befürchtet wird, dass man allein der Einsamkeit und Isolation erliegen könnte, aber es ist nicht untersagt. Der Alleinreisende in der Wildnis und auch der alleinstehende ­Bewohner in seinem Haus sind nicht sicher, der Einsamkeit zu erliegen. Besonders, wenn man von negativen Gedanken und einem schwachen Herzen geplagt wird.“

Unsere Identitäten sind bis zu einem gewissen Grad durch unsere Beziehungen bestimmt. Vor allem wird unsere eigentliche Existenz durch unsere Bindung an Allah definiert, Der uns als Seine Diener erschuf. Die größte Ehre, die Allah den Nachkommen Adams gewährte, war es, uns in Beziehung zu Seiner Majestät zu definieren.