Gerhart Hauptmann, zwischen Utopie und Wirklichkeit

Ausgabe 279

Foto: Lovis Corinth, zeno.org

„Und zu denken, das um die gleiche Stunde ­Hunderttausende, ja viele Millionen Menschen mit ­allen Sinnen auf einen Punkt gerichtet sind, innerlich und äußerlich, einen Punkt, wo das Göttliche Licht zuletzt brannte und erlosch, erweckt Schauer.“
(iz). Am 3. März 1892 wurde durch das Berliner Polizeipräsidium ein Aufführungsverbot für ein Theaterstück erlassen. Das soziale Drama in fünf Akten beschreibt die Lage der Weber in Schlesien und deren Aufstand von 1844. Die Obrigkeit ist empört über einen jungen Autor, der sich an der Revolutionierung des deutschen Theaters erprobt. Sein Name ist Gerhart Hauptmann. Der neue Stil wird dem Naturalismus zugeordnet, er zeigt nicht nur einen Helden, sondern die schonungslos präsentierte Wirklichkeit einer sozialen Schicht, die zudem in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommt. Sprache, Situationen und realistische „Volkstypen“ wurden von dem staunenden Publikum, zumeist selbst Mitglieder der Oberschicht, als revolutionär aufgefasst. Hauptmann selbst geht es weniger um einen ideo­logischen Umsturz, sondern vielmehr um die Erinnerung an die soziale Verant­wortung von Staat, Unternehmer und Gesellschaft. Das Drama begründet nicht nur den Ruhm des Dichters, er erhält 1912 den Nobelpreis für Literatur, ­sondern es entfaltet auch eine zeitlose Wirkung. Heute könnte das Drama in Bangladesch aufgeführt werden, ein Ort, an dem heute die Unterschicht Textilien für die Weltmärkte produziert.
Trotz des revolutionären Potentials der Weber hält der Dichter selbst Distanz zu den politischen Strömungen seiner Zeit. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Thomas Mann führt er ein Leben, das ausschließlich dem Schreiben, der Kunst und der Suche nach alternativen Utopien gewidmet ist. Die Heirat mit seiner wohlhabenden ersten Frau, Marie Thienemann, ermöglicht ihm zunächst ein privilegiertes Künstlerdasein und die Konzentration auf das eigene Schaffen. Es vergehen ­einige Jahre rastlosen Arbeitens, bis der junge Autor auch ökonomisch Erfolg hat. Schließlich tritt eine zweite Frau, die junge Schauspielerin Margarete Marschalk, in das Leben des dreifachen Familienvaters ein und erschüttert mit dieser Affäre nicht nur ein Jahrzehnt lang das Innenleben des Dichters, sondern auch, in aller Öffentlichkeit, die konventionellen und gesellschaftlichen Erwartungen an eine bürgerliche Ehe. Eine erschütternde ­Erfahrung, die Hauptmann später in ­einem fiktiven Tagebuch, dem Buch der Leidenschaft, verarbeitet.
Mit seiner zweiten Frau, die er schließlich nach der Scheidung heiratet, erwirbt er ein Ferienhaus auf Hiddensee, dem Capri des Nordens, und verbindet sein Werk mit der Ostseeinsel und der dort ansässigen Künstlerszene. In der unheimlichen Atmosphäre des 1. Weltkrieges wird Thomas Mann seinen legendären „Zauberberg“ veröffentlichen, während Hauptmann an der Ostsee eine Utopie verfasst: die Insel der großen Mutter. In Zeiten der realen Destruktion Europas durch den Militarismus erzählt der ­Roman das imaginäre Schicksal einer ­alternativen, reinen Frauengesellschaft. Die Frauen haben sich nach einem Schiffsuntergang gerettet und schaffen ihre eigene Zivilisation auf einer imaginären Karibikinsel. Die Insel Hiddensee dient als Inspiration für die Landschaftsbeschreibungen. Der Roman verweist auf die komplexe geistige und religiöse Welt Hauptmanns und berührt die griechische Sagenwelt, christliche Offenbarungs­geschichte und die Phänomenologie des Buddhismus.
Die Gedichte, Dramen und Romane Hauptmanns schaffen einen faszinierenden geistigen Raum, der auch einige ­Berührungspunkte mit dem Islam aufweist. Im Rahmen des jährlichen Hiddensee-Colloquiums des Instituts für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien gestalteten Künstler, Autoren und Wissenschaftler im August einen Abend der besonderen Art zu dem Thema. Einer der Initiatoren des Abends, Dr. Mieste Hotopp-Riecke, hatte im Rahmen seiner Recherchen über die Verbindungen Hauptmanns zum Orient in der Deutschen Nationalbibliothek einen erstaunlichen Fund gemacht. In dem Nachlass fand der Wissenschaftler eine wunderschöne, handschriftlich verfasste Qur’anausgabe, vermutlich aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. „Über 70 Jahre“, so Mieste Hotopp-Riecke, „hatte sich niemand für diese geheimnisvolle Seite des Schriftstellers interessiert“. Die wunderbare Veranstaltung führte mit Lesungen und Referaten, mit Liedern und Melodi­en erstmalig zum Thema Gerhart Hauptmann und der Orient ein. Nächstes Jahr soll, so erfährt man an diesem Abend, ein Buch die Verbindungslinien zwischen Hauptmann, seiner schlesischen Heimat und dem Orient einem breiteren Pub­likum bekanntmachen.
Das Interesse Hauptmanns an der ­islamischen Welt lässt sich auch biographisch belegen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Hauptmann nach einer ausführlichen Griechenlandreise die Stadt Istanbul besucht. Der Dichter unternahm einige Tage lang Streifzüge durch diese Metropole der islamischen Welt. Am 23. Mai 1907 schreibt Gerhart Hauptmann in sein Tagebuch: „Das Bildlose der Moscheen wird nach und nach als etwas das religiöse Gefühl ­Reinigendes empfunden. Von wunderbar eigentümlicher Wirkung ist immer der Gottesdienst ohne Musik. Wir wohnten um Mittag einem Gebet in der Suleiman Moschee bei. In langer Reihe knien die Muselmänner, mit dem Angesicht in Richtung nach Mekka. Ein Iman spricht Koranstellen, eine Stimme vom Hintergrund antwortet. Die Muslime verneigen sich, berühren die Erde mit der Stirn, schweigen lange im Gebet, knien, erheben sich, verharren wiederum schweigend. Und zu denken, dass um die gleiche Stunde Hunderttausende, ja viele Millionen Menschen mit allen Sinnen auf einen Punkt gerichtet sind, innerlich und äußerlich, einen Punkt, wo das Göttliche Licht zuletzt brannte und erlosch, ­erweckt Schauer.“
Hauptmann, der in seiner Lebenszeit bereits mit dem – die moderne Wahrnehmung prägenden – Phänomen von Fernsehbildern umzugehen hatte, schließt dann an anderer Stelle: „Der Mensch erzeugt Bilder, wie der Baum Früchte, und wenn sie nicht von Zeit zu Zeit vertilgt werden, so ersticken sie ihn“. Hauptmann entdeckt so, inspiriert von seinem Moscheebesuch, die Bedeutung des ­Bilderverbotes in der islamischen Überlieferung für sich.
Darüber hinaus hatte Hauptmann, ­ersichtlich in seinen Briefwechseln, auch persönlichen Kontakt mit Muslimen. Auch über diesen Aspekt des weltoffenen Künstlers berichtet die Veranstaltung auf Hiddensee ausführlich. Zu seinem ­Bekanntenkreis gehörte unter anderem die ungarisch-ägyptische Prinzessin und spätere Frauenrechtlerin Djavidan ­Ha­nim. „Wenn ich könnte, würde ich Ihnen, Meister, den allerschönsten Rosengarten Allahs zu Füßen legen“ schrieb sie ihm 1943.
Der Nobelpreisträger interessierte sich auch für das abenteuerliche Leben des ursprünglich jüdischen, dann zum Islam konvertierten Weltenbummlers Essad Bey. 1936 erhielt der Schriftsteller ein Publikationsverbot in Deutschland. Nach einer langen Odyssee starb er schließlich vereinsamt und verlassen in Italien. Vermutlich wollte Essad Bey dort, bevor er schwer erkrankte, eine Biographie über Mussolini schreiben. Von Gerhart Hauptmann ist 1944 ein Gedicht mit dem Titel „Positano“ überliefert, das von Essad Beys einsamem Sterben handelt und schließt: „Alles hatte ihn verlassen, / was ihm jemals lieb gewesen, / bis er dann vom Menschenjammer / endlich durch den Tod genesen.“
Zu den Lieblingsbüchern Hauptmanns gehörte bekanntlich Goethes „West-östlicher Diwan“ und in seinem fiktiven Tagebuch, dem Buch der Leidenschaft, findet sich dann auch eine Art Lebensmotto des Dichters: „Und solange Du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“
In seinem autobiographisch geprägten Buch finden sich weitere Anspielungen auf den Islam und auch sehr persönliche Überlegungen zur islamischen Lebenspraxis. Die Frage nach der bürgerlichen Ehe, im Rahmen der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit, trieb Hauptmann ein Leben lang um. Zwei berühmte Bühnenstücke „vor Sonnenaufgang“ und „vor Sonnenuntergang“ beschreiben die Rolle der Liebe, der Ehe und der Konventionen.
Der fiktive Autor, wie Hauptmann selbst, jahrelang zerrissen zwischen zwei Frauen, erwägt schließlich die Möglichkeit, selbst zum Islam zu konvertieren. Im Tagebucheintrag 25.12.1894 diskutiert er zunächst als Freigeist die Frage der Polygamie und schreibt: „Ich finde die Einehe unzulänglich, und zwar von jedem Gesichtspunkt aus, dem materiellen sowohl als dem ethischen“. Im weite­ren Verlauf seiner Aufzeichnungen, in einem Eintrag vom 18.10.1895, spekuliert er über diese andere, unkonventionelle Variante der Partnerschaft und seine Wirkungen: „Und warum sollte man sich denn nicht durch ernstes Arbeiten an sich selbst zu dieser zweifellos edlen Form der Lösung eines Konfliktes durchringen, einer edleren und humaneren Form, als der brutale und blutige Trennungsriss sein würde? Oder steht Zerreißen, Trennen und Vernichten höher als Heilen, Versöhnen, Vereinen und Aufbauen?“
Natürlich bleibt die Idee einer Vereinigung in einer Ehe zu dritt, in der Fiktion wie in der Praxis, eine Utopie. Dennoch zeigt sich auch hier das Verlangen des Dichters, seine geistige Freiheit, nicht durch die Maßstäbe seiner Zeit begrenzen zu lassen. Die Beziehungen des weltberühmten Dichters zum Orient und dem Islam, im Rahmen seines Engagements für die soziale Frage, bleiben ein spannen­des Kapitel für die Forschung.