Gewagte Thesen (2)

Ausgabe 272

Foto: Pixhere.com

(iz). Als Beispiel für Thesen, die nicht haltbar sind, weil uns Verstand und Erfahrung bereits eines Besseren belehren, gehört insbesondere These 3: „Jede Muslimin und jeder Muslim hat die Freiheit, den Qur’an so zu interpretieren, wie sie oder er will.“ Das eben gerade nicht! Spätestens seit dem Fanal des 11. September bemühen sich islamische Theologen weltweit, und gerade die „aufgeklärten“ und „reformerischen“ unter ihnen, der „freien“ und damit wahllosen, weil methodenlosen, Qur’anauslegung entgegenzutreten und die Wichtigkeit einer hermeneutischen „Kontextualisierung“ herauszustellen. Kontextualisierung heißt hier die Einbettung einer Qur’anstelle in ihren Textzusammenhang, gegen eine sogenannte Bruchsteinexegese; die Einbettung in ihren historischen Offenbarungskontext und damit auch in mögliche Grenzen ihres Geltungsanspruchs; und nicht zuletzt die neue Einbettung in einen aktuell gültigen gesellschaftlichen und theologischen Zusammenhang, also den lebendigen Bezug auf unsere derzeitige Lebenswelt. Für eine solche Qur’anexegese bedarf es aber eines breiten theologischen und sprachlichen Wissens. Zu den Hilfswissenschaften, die als Voraussetzung dafür angesehen werden, gehören die Grammatik und Rhetorik der arabischen Sprache, die Logik, das Wissen um die „Offenbarungsanlässe“ (azbab an-nuzul) und vieles mehr. Denn das Problem, das es im Namen des Islam gerade im Blick auf Gewaltbereitschaft, tatsächliche Gewalt oder gar Terror gibt, hat seine Wurzeln nachweislich im „self-made-Islam“ oder „Laien-“ oder „Lego-Islam“.
Dabei versteht Ourghi sein Projekt einer „Islamreform“ als „differenzierte und sachliche Islamkritik“. Dass dem leider nicht so ist, lässt sich an vielen Beispielen zeigen, wofür hier nur einige exemplarisch ausgeführt werden sollen: An mehreren Stellen weist Ourghi darauf hin, dass die letzten beiden Verse der „Eröffnungssure“ (Al-Fatiha) gegen die Juden und Christen gerichtet seien: „Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinem Zorn verfallen sind und irregehen!“ (Al-Fatiha, 6-7); und er behauptet wiederholt: „Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass mit der ersten Gruppe die Juden gemeint sind und mit der zweiten die Christen.“ Mag es anfänglich überraschen, dass Ourghi hier „die gesamte muslimische Koranexegese“ zu einer Qur’anstelle überschauen möchte, so überrascht es dann doch wenig, wenn sich schon nach kurzen Nachforschungen Gegenteiliges feststellen lässt: Die behauptete Beziehung der Verse auf Juden und Christen findet sich nicht im klassischen Kommentar „Tafsir al-Ghara’ib al-Qur’an“ des Nizam ud-Din Hasan an-Nisaburi (gest. 1328), auch nicht bei dem sufischen Qur’anexegeten Sahl ibn ʿAbdallah at-Tustari (gest. 896). Jedoch nicht nur bei klassischen oder sufischen Exegeten findet sich der Hinweis nicht durchgängig, sondern selbst in den Qur’ankommentaren der Wegbereiter beziehungsweise Vorreiter des politischen Islam wie „Fi Zilal al- Qur’an“ von Sayyid Qutb (gest. 1966) oder im „Tafhim al-Qur’an“ von Sayyid Abul Ala’ Maududi (gest. 1979) sucht man ihn vergebens; ganz zu schweigen von „reformerischen“ Auslegungen wie der „Risale-i Nur“ des kurdisch-islamischen Denkers Said Nursi (gest. 1960) oder gar in „The Message of the Qur’an“ von Muhammad Asad (gest. 1992); und es findet sich eine solche Auslegung auch nicht im berühmten schiitischen Qur’ankommentar „Tafsir al-Mizan“ von ʿAllamah al-Sayyid Muhammad Ḥusayn at-Ṭabatabaʾi.
Noch schwerwiegender in Sachen mangelnder Wissenschaftlichkeit sind die ständigen Pauschalurteile Ourghis ohne jeglicher empirischer Belege wie „Der Islam hat ein gestörtes Verhältnis zur Reflexion“, oder  „So ergehen sich die traditionellen Freitagspredigten nicht selten in der Diffamierung anderer Religionen und überhaupt aller Andersdenkender“, oder  „(…) vielmehr ist der kollektive Druck in den Gemeinden immens. Und jeder, der nicht gehorcht und seinen Willen der Gemeinde nicht unterordnet, ist von Ausschluss und Isolation bedroht“, und andere völlig unbelegte Behauptungen mehr, so dass einem die islamischen Theologen und Religionssoziologen (wie etwa Rauf Ceylan, Naika Foroutan, Ursula Boos-Nünning u.a.), die aufwändige empirische Forschungen zu solchen Themen anstellen, einem nur leid tun können.
Dabei haben die Meinungen Ourghis auch das Zeug, gefährlich werden zu können, wenn er etwa behauptet: „Der Unterschied zwischen den salafistischen und den moderaten Imamen besteht darin, dass erstere ihren Glauben in die Tat umsetzen, während die anderen nur daran glauben. Anders gesagt: Es gibt den aktiven und den passiven Islam.“ Da nach breitem Konsens der islamischen Gelehrsamkeit Glaube nicht vom Handeln getrennt werden kann (vgl. exemplarisch: Abu Hamid al-Ghazali: Ayyuha l-walad. Braunschweig 2002), bedeutet Ourghis Aussage hier, dass es im Prinzip nur den salafistischen Islam als den „wahren Islam“ gibt. Das entspricht aber genau der verkürzten Sichtweise und verführerischen Rhetorik, mit der extremistische Rattenfänger Proselyten machen wollen!
Kurios ist auch der Lösungsvorschlag, den Ourghi in diesem Kontext vorbringt: „Die Alternative zu Import-Imamen und Selfmade-Imamen ist die theologische Ausbildung der islamischen Geistlichen an hiesigen Hochschulen, wie etwa an der Hochschule Freiburg oder der Universität Münster, beides Hochschulen, die über Institute der Islamischen Theologie verfügen.“
Kurios ist dieser „reformerische“ Vorschlag deshalb, weil von der Bundesregierung bereits 2010 (!) in genau dieser Absicht an vier Hochschulstandorten „Islam-Zentren“ eingerichtet wurden (Münster, Osnabrück, Frankfurt und Tübingen), Ourghi aber nur von Münster und der „Hochschule Freiburg“ spricht und dabei darüber hinweg mogelt, dass es sich um die Pädagogische Hochschule Freiburg handeln soll, an der er selbst tätig ist, aber dort überhaupt kein Mandat und auch keinen Studiengang dazu hat „islamische Geistliche“ auszubilden, sondern Lehrkräfte für den Islamischen Religionsunterricht. Die baden-württembergische Universität Tübingen, die tatsächlich Islamische Theologen ausbildet, die auch als Imame eingesetzt werden könnten, bleibt dagegen unerwähnt; auch die Standorte für Islamische Theologie in Osnabrück und Frankfurt verschweigt Ourghi, als gäbe es außer Khorchide (Uni Münster) und ihn selbst in ganz Deutschland nichts, beziehunsgweise nur konservative Hörige der Islamverbände, wie er wohl unterstellen möchte; nicht zuletzt vielleicht auch in Richtung seiner Kollegen an den Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe, Ludwigsburg und Weingarten.
Nun gibt es bei Ourghi tatsächlich auch Thesen, die durchaus ihre Berechtigung haben. Allerdings sind viele von diesen längst in der islamischen Theologie und auch in der muslimischen Community bekannt und werden dort viel diskutiert oder längst umgesetzt, was Ourghi weitestgehend ausblendet oder schlicht nicht wahrnimmt. Deswegen kann man bei ihm groß tönende Thesen zum „interreligiösen Dialog“ hören, wobei man sich aber fragt, was in vielen Moscheegemeinden (in Ourghis Wohnort Freiburg beispielsweise seit 20 Jahren in enger Zusammenarbeit des dortigen Islamischen Zentrums mit dem Erzbischöflichen Ordinariat – bezeichnenderweise ohne Ourghis Beteiligung!) denn anderes praktiziert wird?
Tatsächlich wichtig ist darüber hinaus der innerislamische Dialog, doch klingt es ziemlich merkwürdig, wenn Ourghi hierbei wiederholt gegen einen „Erwählungsgedanken“ wettert, der bekanntlich für das Judentum kennzeichnend ist, wie in These 30: „Der Dialog unter den Muslimen ist unentbehrlich, denn es gibt im Islam keine auserwählte Glaubensgemeinschaft.“ Wenig später benutzt Ourghi sogar den bedenklichen und völlig unpassenden Ausdruck „Volk“: „Wir Muslime sind kein exzeptionelles Volk, das von Gott mit der besten und wahrsten Religion beschenkt wurde. Dieser religiöse Narzissmus hat mit der Realität nichts zu tun. Wir Muslime sind nicht das auserwählte Volk.“
Abgesehen von dem Lapsus eines Superlativs von „wahr“, bleibt einem auch hinsichtlich des „völkischen“ Verständnisses des Islam nur ein Räuspern, betretenes Schweigen und das Fazit, dass die „40 Thesen“ Ourghis wohl kaum „Ideen, wie eine Liberalisierung gelingen könnte“ darstellen, wie der Redakteur im FAZ-Feuilleton, Thomas Thiel, mutmaßt. Vielmehr führen solche Thesen eher dazu, dass der Islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen an Akzeptanz verliert und die muslimischen Kinder wieder in die Qur’anschulen zurückgedrängt werden. Auch die Islamische Theologie/Religionspädagogik in Deutschland bekommt den zweifelhaften Beigeschmack eigentlich politische Ziele zu verfolgen. In der aktuellen Islam-Debatte können sich die Fronten noch mehr verhärten, wenn in den landläufigen Medien jetzt schon beinahe jede Kritik an Ourghi als „Attacke“ gewertet wird, aber jede Attacke Ourghis als „aufklärerische Kritik“. Dabei wird gefährlich polarisiert und all jenen, die Ourghi nicht als liberalen Reformer ansehen, allzu schnell der Stempel der konservativen bis fundamentalistischen „Hard-Liner“ aufgedrückt, obwohl es eben durchaus gute Gründe gibt seinen Thesen kritisch gegenüber zu stehen.