„Grundrecht auf freie Religionsausübung muss gesichert sein.“ Interview von Rusen Timur Aksak mit dem Autor Richard Potz

Die österreichische Ausgabe der internationalen türkischen Tageszeitung “Zaman” führte ein wichtiges Gespräch mit dem Autor Richard Potz über sein neues Buch „Muslime in Österreich“, viktorianische Sittenmoral, modernistisch-fundamentalistische Theologen und „unpassende“ Lehrinhalte in Lehrbüchern

Zaman: In Kürze erscheint Ihr neues Buch „Muslime in Österreich“. Sie sind Co-Autor. Freut man sich als Wissenschaftler über das Thema Islam, weil es für Grundaufmerksamkeit sorgt?

Richard Potz: Als Wissenschaftler freut man sich immer über Veröffentlichungen. Dieses Buchprojekt ist aber ein lang geplantes. Zusammen mit Susanne Heine und Rüdiger Lohlker hatten wir schon Jahre zuvor besprochen, dass wir dieses Projekt gemeinsam angehen, doch hat sich die Fertigstellung immer wieder verzögert. Dann kamen auch noch die Wahlen der IGGiÖ dazwischen, jetzt steht demnächst das 100-jährige Jubiläum des „Islamgesetzes“ an. Aber wir wollten jetzt einfach mal das Buch abschließen, da sich ja in Zukunft weiterhin etwas tun wird.

Zaman: Sie waren für die rechtshistorischen Aspekte im Buch verantwortlich?

Richard Potz: Ja, aber auch für die generelle geschichtliche Entwicklung, die Entwicklung der Glaubensgemeinschaft und die rechtlichen Aspekte muslimischer Präsenz in Österreich.

Zaman: Was verstehen Sie unter moderner islamischer Rechtsprechung und würden Sie so weit gehen wie Thomas Bauer (Autor von „Kultur der Ambiguität“), der sagt, dass etwa die viktorianische Sittenmoral einen nachhaltigen Effekt auf die „moderne islamische“ Sittenmoral gehabt hat?

Richard Potz: Das ist eine gute Frage. Natürlich sind die wechselseitigen Beeinflussungen – in beide Richtungen – nicht von der Hand zu weisen; das wird es auch weiterhin geben. Typischerweise war es bis ins 18. Jahrhundert ein Nehmen und Geben. Anschließend wurde es überwiegend ein Nehmen durch den islamischen Kulturkreis: So fanden französische und englische Rechtstraditionen ihren Eingang in die islamische Rechtsprechung, aber etwa auch die österreichische Rechtskultur, nämlich über den Korridor Bosnien.

Es geht aber nicht nur um formale Aspekte, es fanden auch moralische Vorstellungen Eingang in die islamische Geisteswelt. Dennoch würde ich es nicht so radikal formulieren wie Thomas Bauer. Es war ja nicht nur die Rezeption, sondern auch bewusste Negation von tatsächlich oder vermeintlich „westlichen“ Positionen und Wertvorstellungen, welche einen Einfluss ausübte, insbesondere was Fragen der öffentlichen Moral betrifft.

Zaman: Denken Sie, die modernistisch-fundamentalistischen Theologen und Bewegungen sind sich bewusst, dass sie bis zu einem gewissen Grad das „Übernahme und Abwehr“-Motiv aus der kolonialen Vergangenheit fortführen?

IRichard Potz: ch glaube, das ist ihnen oft nicht bewusst. Man muss überlegen, welche unterschiedlichen Gruppierungen es im zeitgenössischen Islam überhaupt gibt. Es gibt den Typ des „konservativen Modernisierers“. Das sind Traditionalisten, die ihre Inhalte in moderne Formen gießen wollen. Solche „konservativen Modernisierer“ wollen lediglich in Segmenten modernisieren. Derlei Bewegungen sind global anzutreffen, doch scheinen sie in der islamischen Welt überproportional stark zu sein. Ein „westliches“ Gegenstück wären etwa evangelikale Christen in Nordamerika, die Modernisierung mit einer starken traditionellen Gläubigkeit verbinden.

Zaman: Sie beschäftigen sich schon länger mit dem Thema „Islam“. Sie sind ja unter anderem verantwortlich für eine der Arbeitsgruppen (zwischen IGGiÖ und dem Staatssekretariat Integration, Anm.). Wie ist dort der allgemeine Stand, und wann können wir mit der autonomen Ausbildung österreichischer Imame rechnen?

Richard Potz: Ich arbeite in der AG „Staat und Islam“, und diese Gruppe wird sich in erster Linie mit rechtlichen Fragen befassen. Die Themen sind bekannt: das Tragen des Kopftuchs, Moscheebau, islamische Friedhöfe, Gleichbehandlungsrecht. Für die Ausbildung von Imamen in Österreich gibt es eine weitere Arbeitsgruppe. Dieses Thema wird uns daher nur in seinen grundsätzlichen, religionsrechtlichen Aspekten beschäftigen – im Rahmen der Frage, wie es in ein novellierte Islamgesetz integriert werden kann.

Zaman: Wann werden wir autonom in Österreich ausgebildete Imame in Österreich haben?

Richard Potz: Es gab vor einigen Jahren ein Positionspapier der Europäischen Kommission zum Thema Islam, und da gab es die allgemeine Empfehlung, man möge doch die inländische Ausbildung islamischer Theologen forcieren. In Deutschland hat man vor Kurzem ein sehr ambitioniertes Programm entwickelt, wonach an vier Universitätsstandorten islamische Theologie bzw. Religionspädagogik aufgebaut werden soll. Das Problem scheint derzeit zu sein, dass das „Angebot“ am „Wissenschaftlermarkt“ noch nicht groß genug ist, um diese Einrichtungen personell ausstatten zu können. Deswegen hat man etwa auch den österreichischen Markt abgeschöpft.

Es handelt sich eben um einen lang dauernden Prozess, was man akzeptieren muss, ohne die Notwendigkeit der Etablierung von solchen Einrichtungen infrage zu stellen. Allein aus verfassungsrechtlichen Gründen ist der Staat verpflichtet, allen anerkannten Religionsgemeinschaften ein solches Angebot zu machen. Ein Angebot, wohlgemerkt. Es steht dann wiederum den Religionsgemeinschaften frei, dieses anzunehmen oder eben abzulehnen.

Die Religionsgemeinschaften müssen sich also überlegen, ob sie das wollen. Besonders für den österreichischen Islam ist dies eine Herausforderung, da man den Verantwortlichen klarmachen muss, dass einer solchen Einrichtung – wie etwa einer Fakultät – ein hohes Maß an Autonomie (nach dem österreichischem Hochschulrecht, Anm.) zukommt, wie dies auch bei den Katholisch-Theologischen und der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Fall ist. Sprich: Hochschulautonomie schlägt unter Umständen Vorrechte der entsprechenden Glaubensgemeinschaft.

Wenn die IGGiÖ die theologische und religionspädagogische Ausbildung den staatlichen Universitäten anvertrauen möchte, dann wird es keine gehobene Koranschule, sondern eine wissenschaftliche Einrichtung mit Hochschulautonomie geben. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sein können, kann die IGGiÖ bei der Katholischen und Evangelischen Kirche erfragen.

Zaman: Sie sind ja unabhängiger Experte und arbeiten seit Längerem mit der IGGiÖ zusammen. Wie ist Ihre Erfahrung soweit?

Richard Potz: Nun, ich bin in der Tat das eine oder andere Mal kontaktiert und gefragt worden, bei anderen Gelegenheiten wiederum nicht. Selbstverständlich bin ich niemals eingebunden gewesen, wenn es um islamische Inhalte gegangen ist. Man kann aber auch nicht sagen, dass ich mit allen staatsrechtlich relevanten Entscheidungen der IGGiÖ immer glücklich gewesen bin. Aber das ist sowieso nicht zu erwarten.

Zaman: Wie stehen Sie etwa – Sie sprachen einmal von einer „legistischen Trickkiste“ – zu Versuchen der Politik, über Ortsbild- und Baugesetzgebung Moscheebauten zu erschweren bzw. zu verhindern?

Richard Potz: Diese „Tricks“ sind meist so vordergründig und banal, dass es oft unerträglich wird. Ich frage mich manchmal, ob man nicht bereits mit der Bewertung als „Trick“ den Herrschaften zu viel Ehre erweist. Sie sagen dann etwa, dass es nicht um Moscheen konkret gehen würde – zumindest in den Gesetzestexten -, damit sie keine verfassungsrechtlichen Probleme bekommen; machen dann aber in Presseaussendungen klar, dass es praktisch nur um die Verhinderung von Moscheen geht. Insbesondere im Fall von Kärnten sind die verfassungsrechtlichen Bedenken eklatant, die Verfahren zur Durchsetzung verlangen aber auch im Rechtsstaat einen langen Atem.

Zaman: Was wiegt schwerer: Ortsbildgesetzgebung oder das Grundrecht auf freie Religionsausübung?

Richard Potz: Ganz generell gibt es das Grundrecht auf freie Religionsausübung, das muss gesichert sein. Jede Religionsgemeinschaft muss ihre Gebetsstätten errichten dürfen, das ist Teil der Religionsausübungsfreiheit. Dennoch gibt es in ganz Europa – das ist also nicht auf Österreich beschränkt – einen Trend, mittels formaler Argumente unter anderem auch Moscheebauten zu behindern. Der Klassiker ist hierbei etwa das „Parkplatzphänomen“: Die Behörde fragt die Gemeinde, wie viele Mitglieder sie hätte, und diese antwortet eben: Hunderte oder vielleicht gar Tausende, worauf die Behörde auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Anzahl von Parkplätzen hinweist. Dies gilt insbesondere für Errichtungen in dicht bebauten Stadtgebieten.

Zaman: Frei nach Carl Schmitt: Es ist derjenige als politisch mächtig anzusehen, der über den Ausnahmezustand bzw. die Ausnahme von der Regel entscheiden kann. Sind also derlei Versuche, über Ortsbild- und Bauordnungsgesetze Moscheebauten zu verhindern, als Verletzung der verfassungsrechtlichen Ordnung zu sehen?

Richard Potz: Grundsätzlich ja. Es geht sicher immer darum, einen schonenden Ausgleich zwischen den Rechtspositionen und Interessenlagen der Betroffenen zu erreichen. Schließlich muss man das konfliktfreie Zusammenleben als Ziel vor Augen haben.

Zaman: Sie schrieben einmal, dass ein Minarettverbot wie etwa in der Schweiz in Österreich rechtlich nicht möglich wäre – dank des „Islamgesetzes“ von 1912.

Richard Potz: Es ist nun einmal so, dass zwar auch nicht anerkannte Religionsgemeinschaften Anspruch auf freie Ausübung ihrer Religion haben, dass aber gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaften sich da in vieler Hinsicht leichtertun. Da der Islam in Österreich anerkannt ist, ist die verfassungsrechtliche Situation des Islam in Österreich eine deutlich bessere als etwa in der Schweiz.

Zaman: Dennoch tut sich das offizielle Österreich schwer mit dem Islam?

Richard Potz: Ich glaube, dass man sich einerseits der günstigeren Rechtslage bewusst ist, was zu einer Reihe von Kooperationen zwischen den Behörden und der IGGiÖ führt, andererseits aber doch Unsicherheit im Umgang miteinander zu konstatieren ist. Es ist interessant, dass der Islam in Ländern, die denen er rechtlich gar nicht so gut dasteht, im öffentlichen Raum oft präsenter ist als in Österreich. So ist Österreich ein Land, in dem es im Vergleich zum islamischen Bevölkerungsanteil auffällig wenig Moscheen gibt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass etwa die Muslime in England im Bildungssystem wie ökonomisch schon früher erfolgreich waren als in Österreich.

Zaman: Es gab ja in der jüngeren Vergangenheit heftige Diskussionen über den Inhalt von Lehrbüchern der Glaubensgemeinschaft. Doch Sie haben dazu einmal geschrieben, der Staat hätte selbst in Fällen eindeutig „unpassender“ Lehrinhalte keine direkte Sanktionsmöglichkeit …

Richard Potz: Die Religionsgemeinschaften verpflichten sich prinzipiell, nichts gegen die staatsbürgerliche Erziehung zu tun. Aber es gibt eben keine ausdrückliche rechtliche Sanktion. Natürlich versuchen in einem solchen Fall alle Parteien, auf einen Nenner zu kommen, denn die allerletzte, allerdings nur theoretische Möglichkeit des Staates wäre es ja, die Anerkennung der entsprechenden Religionsgemeinschaft aufzuheben.

Zaman: Das Islamgesetz wird ja bald 100 Jahre alt – Grund zu feiern, oder ist es noch ein langer Weg bis zur völligen Gleichstellung?

Richard Potz: Grund zu feiern gibt es natürlich. Das relativ kurze Islamgesetz von 1912 muss man im Hinblick darauf, dass die bosnischen Muslime 1908 Bürger der Donaumonarchie geworden waren, aus dem historischen Kontext des damals geltenden staatlichen Rechts verstehen. Die Kürze des Gesetzes ergab sich daraus, dass damals in Österreich – wie übrigens auch in Ungarn – keine Glaubensgemeinschaft als institutioneller Partner zur Verfügung stand. Man konnte – falls es notwendig wurde – auf Einrichtungen des Islam in Bosnien zurückgreifen. Erst durch die Einwanderung von Muslimen in den 1970er Jahren, insbesondere im Zuge der Arbeitsmigration, ergab sich die Notwendigkeit, das Islamgesetz auch institutionell mit Leben zu füllen, und so ist damals die IGGiÖ entstanden.

Herr Potz, wir danken für dieses Gespräch.

Das Interview erschien ursprünglich am 28. Februar 2012 in der österreichischen Ausgabe der internationalen Tageszeitung “Zaman”.