Halle: Der Anschlag auf die Synagoge und seine Folgen

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Berlin (KNA). Der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 gehört zu den schwersten antisemitischen Straftaten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zum Jahrestag der Bluttat ist der Prozess gegen den 28 Jahre alten Angeklagten voll im Gange. In den 15 Verhandlungstagen seit Beginn im Juli sind zahlreiche Details ans Licht gekommen, haben Opfer, Angehörige, Beteiligte und Fachleute ausgesagt – nicht zuletzt auch der angeklagte, geständige Stephan B., der seine Taten live streamte. Seine Aussagen und Schilderungen empfanden die Opfer oft als unerträglich. Reue lässt er nicht erkennen, dafür seine ausgeprägt antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Gesinnung.

Überlebende haben vor Gericht ihr psychisches Leid im Zuge der Tat geschildert und von Depressionen, Schlafstörungen, Angst-Attacken berichtet. Eine Zeugin aus der Synagoge sprach von einer Nahtoderfahrung. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hatten sich damals 52 Menschen zum Gottesdienst in der Synagoge versammelt, als der schwer bewaffnete Täter versuchte, mit Schüssen und Sprengsätzen einzudringen. Nachdem dies misslungen war, erschoss er eine Passantin und wenig später einen jungen Mann in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss. Eine 30 Jahre alte Rabbinerin berichtete im Prozess, wie die Tat das familiäre Trauma des Holocaust reaktiviert habe. Die Shoa sei zwar vorbei, die Folgen aber nicht.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, äußerte vor Gericht Zweifel, dass die Eltern des Angeklagten nichts von den Plänen mitbekommen haben sollen. Das erinnere ihn an Menschen, die früher wenige Kilometer von Konzentrationslagern gelebt hätten und nach der Befreiung sagten, sie hätten nichts davon gewusst. Zugleich betonte er, die zahlreichen Solidaritätsbekundungen nach dem Anschlag hätten ihm gezeigt, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland gegen Hass und Antisemitismus sei: „Das ist der größte Unterschied zwischen dem Jahr 1938, als unsere Synagoge auch angegriffen wurde, und 2019.“

Gleichwohl gilt es im Prozess auch aufzuarbeiten, ob B. sich tatsächlich weitgehend unbemerkt radikalisieren konnte und welche politisch-gesellschaftliche Dimension mit der Tat verbunden ist. „Halle sollte ein Weckruf für die gesamte Gesellschaft sein“, mahnte die Berliner Sozialwissenschaftlerin Anastassia Pletoukhina, die sich während des Anschlags in der Synagoge aufhielt. „Besonders verstörend ist es, wenn wir sehen, wie in Zeiten von Corona abstruse Verschwörungsmythen immer mehr in unsere Gesellschaft eindringen, die antisemitische Hetze sich ungehindert verbreitet – und eine Kontinuität des rechtsextremen Terrors immer deutlicher wird.“

In dieser Einschätzung kann sie sich vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bestätigt sehen. Im August legte die Behörde erstmals einen 100 Seiten umfassenden Lagebericht zum Antisemitismus in Deutschland vor. Danach ist Judenfeindlichkeit unter Links- und Rechtsextremisten sowie Islamisten vorhanden. Die größte Bedeutung haben antisemitische Welterklärungsmodelle indes bei Rechtsradikalen. Vor allem im „altrechten“ und völkischen Teil dieses Spektrums sei eine zumeist rassistisch begründete Judenfeindschaft konstitutiv.

In einem Interview gab BfV-Präsident Thomas Haldenwang an, dass es bei rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten im Jahr 2018 einen Anstieg um 71 Prozent und 2019 um weitere 17 Prozent gab. „Wenn mir jüdische Bürgerinnen und Bürger sagen, dass sie sich fragen, wann der Zeitpunkt erreicht ist, Deutschland zu verlassen – dass sie überhaupt schon an diesem Punkt sind: Dann ist die Lage schlimm“, sagte Deutschlands oberster Verfassungsschützer.

Auch unter dem Eindruck von Halle will die Politik dagegenhalten. So verabschiedete der Bundestag im Juni ein Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität besonders im Internet. Es verpflichtet die Betreiber von Sozialen Netzwerken, bestimmte strafbare Inhalte an das Bundeskriminalamt zu melden. Bei der Strafzumessung können antisemitische Motive besonders berücksichtigt werden. Weitere Maßnahmen soll ein eigens eingerichteter Ausschuss des Bundeskabinetts noch erarbeiten.