Hintergründe über die aktuelle Staatskrise in der Türkei. Ein Beitrag von Abu Bakr Rieger

Ausgabe 224

(iz). Nüchterne Einschätzungen zur Lage in der Türkei und den aktuellen Konflikten im muslimisch-konservativen Lager sind eher selten. Im Interview mit der „Badischen Zeitung“ versuchte sich Günther Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik aus Berlin einmal an einer Analyse jenseits einer absoluten Moral. „In diesem Konflikt ist es schwer zu sagen, wer der Gute und wer der Böse ist“, stellte Seufert einleitend fest und ergänzte dann mit einer Binsenweisheit: „Nach elf Jahren AKP-Alleinregierung gibt es viele handfeste Anzeichen dafür, dass die Korruption tatsächlich große Ausmaße angenommen hat.“

Der Fairness halber erwähnt der Experte noch, dass es der Gülen-Bewegung, die den aktuellen Korruptions-Skandal angestoßen hat, auch nicht allein um die Segnungen der Rechtsstaatlichkeit geht, sondern schlicht um ihr Bestehen im Machtkampf. An anderer Stelle hatten die Analysten der SWP das Netzwerk ­bereits wenig schmeichelhaft als religiösen „Weltanschauungskonzern“ betitelt. Nachdem Fethullah Gülen und sein Apparat der türkischen Regierung gegen die Militärs zum Sieg verhalfen, drehte sich der Wind. Dabei dürfte eher die Bewegung als die AK-Partei vor existenzbedrohenden Problemen stehen.

Ganz grün waren sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der „Hoca“ nie. Seit Jahren gibt es diverse rufschädigende Theorien, die im Kern die Frage behandeln, warum der bekann­te Prediger und Kopf der Bewegung ausgerechnet in den USA residiert. Einige Praktiken der Gülen-Partei im Medienkrieg der letzten Monate erinnern ein wenig an Geheimdienstmethoden. Sie reichen von der Nutzung „geheimer Videoausschnitte“ bis zu „abgehörten ­Telefonaten“.

Das Neue in dem Konflikt ist, dass ein alter Tatbestand – Korruption, die alle Parteien in der Türkei betraf und betrifft – durch moderne Techniken immer ­besser nachzuweisen ist. Damit kommen wir zur guten Nachricht: Künftig wird die Türkei die Korruption etwas offensi­ver angehen müssen, denn jeder Politiker wird dann befürchten müssen, dass der Ton mitläuft oder ein Photo abgesen­det wird.

Die Verquickung von Politik und Geschäft ist ein Tatbestand in der Politik, der jenseits der Zugehörigkeit zu religiösen Lagern seine Wirklichkeit entfaltet. Viele türkische Abgeordnete müssen mindestens eine Amtszeit durchhalten, um ihre Wahlkampfkosten zu finanzieren. Beinahe klassisch sind in einem Staat der blühenden Landschaften Geschäfte, bei denen eine Regierungspartei oder ein Bürgermeister mithelfen, Brache in Bauland zu verwandeln. Die Grundstückseigentümer sind dann „zufällig“ die politischen Förderer früherer Tage.

Hinzu kamen noch die dubiosen „Bartering“-Geschäfte im Umfeld der Halkbank. Mit diesen gelingt allerdings – ganz nebenbei erwähnt – der Nachweis, dass es für die Türkei auch einen Handel jenseits des Dollars geben könnte. Altmodisch an dem „New Deal“ waren eigent­lich nur die Schuhkartons. Die „Gold gegen Öl“-Aktivitäten sind in dieser Region jedenfalls eine Geschäftsform, die den internationalen Währungskartellen nicht wirklich gefallen dürfte.

Zurück zur Innenpolitik: Das Phänomen eines „Coup der Justiz“, von dem Erdogan heute ausgeht, und dessen „Regime“ er verhindert haben will, dürfte zumindest einen Weg in die politischen Lehrbücher unserer Zeit finden. Man hörte schon von putschenden Militärs oder Bankiers, aber das ist Neuland. Aller­dings gab es bisher wenig aufklärende – und vor allem sachliche – Nachweise darüber, was Erdogan der Justiz wirklich vorwirft. Es soll sich dabei um Kompetenzüberschreitungen und Verlet­zungen der Zuständigkeiten handeln.

Zweifellos entscheidet sich an diesem Punkt die Glaubwürdigkeit der Regierung. Präsident Abdullah Gül versprach zumindest genaue Aufklärung der Sachverhalte und die Achtung des Prinzips der Gewaltenteilung. Warten wir mit unserem endgültigem Urteil also noch ein wenig ab. Fest steht bisher nur, dass die Türkei in unversöhnliche Lager ­gespalten bleibt. Beide Seiten sind mit dynamischen Fanclubs versehen, die der reinen Subjektivität alle Ehre machen. Gut also, wenn man an ein paar Fakten erinnert – insbesondere an den politischen Grundtatbestand der letzten Jahre.

Zweifellos führte Ministerpräsident Erdogan das Land aus eher diktatorischen Verhältnissen in eine offenere Gesellschaft. Viele westliche „Menschen­rechts­experten“ hatten, heute mit viel Schaum vor dem Mund, in dieser Zeit auffallend wenig an den Verhältnissen und der NATO-Zugehörigkeit der Türkei auszu­setzen. Gewiss, alte Verdienste können auch verwirkt sein. Und sicherlich hat Erdogan auch Fehler gemacht. So wird seine Syrienpolitik – um nur ein Beispiel zu nennen – in erster Linie wegen der Parteinahme in einem undurch­sichtigen Konflikt heftig kritisiert; auch in seiner Partei, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand.

Wie viele andere starke Persönlichkeiten auch, ist der türkische Ministerpräsident eher von schwachen Beratern umgeben. Und es mag sein, dass der komplexe Staatsapparat, in dem er sich bewegt, hin und wieder seine Einschätzungen trübt.

Da ist aber die andere Seite: Erdogan ist noch immer der einzige türkische Politiker, der große, parteiübergreifende Mehrheiten hinter sich versammeln kann. Die Tendenz unserer Medien, eini­ge tausend Demonstranten in der 20-Millionen Stadt Istanbul als Volksaufstand zu verkaufen, belächeln jedenfalls viele Türken zu Recht.

Der Ministerpräsident hat fraglos auch Feinde, wurde das ökonomische Establishment doch durch seine Politik provo­ziert. Immerhin zahlten die Türken die Kredite des Internationalen Währungsfonds komplett zurück und befreiten die türkische Lira von einer atemberaubenden Inflation. Diese ökonomischen Errungenschaften sind aber – und das könnte die eigentliche Gefahr für Erdogan werden – in Zeiten einer globalen Finanzkrise und alltäglichen Währungsspekulationen naturgemäß auf Sand gebaut und damit ist die weitere absolute Zustimmung für seine Politik keinesfalls garantiert. Vielleicht wäre es für die AKP im Sinne einer Weiterentwicklung ­ihrer stellenweise neoliberalen Politik interessant, auch das eine oder andere Argument linker Globalisierungskritiker aus dem Gezi-Park ernstzunehmen.

Aber bleiben wir beim Urteilen ­jenseits von Gut und Böse und lassen auch diese letzte Frage zu: Gibt es gar eine ­Intrige gegen die Türkei, mit dem Ziel seines Sturzes – kurz vor der ­eventuellen Präsi­dentschaft Erdogans im Jahr 2014? Nach einem Bericht der türkischen Tageszeitung „Takvim“ belegen angeblich Dokumente des türkischen Geheim­diens­­tes MIT, dass der amerikanische Investmentfonds KKR 25 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt habe, um die Regierung Erdogan zu stürzen und somit den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei zu torpedieren.

Mit dieser Aufgabe solle nach Darstellung des Erdogan nahestehenden Organs der ehemalige CIA-Chef und General David Petraeus beauftragt worden sein. Seit Mai 2013 leitet dieser das KKR Global Institute, die Analyseabteilung der Investmentfirma KKR. Solche Berichte, die sich immer wieder in türkischen Medien finden, sind schwer zu überprüfen.

Natürlich werden die Lager dann auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Für die einen sind alle Angriffe und Einmischungen von außen, die das Innenleben der Türkei betreffen, „Verschwörungstheorien“. Für die anderen ist Erdogan der Garant einer neuen, souveränen Türkei, die friedlich, aber selbstbewusst ihre Rolle als Regionalmacht spielt und gerade deswegen „fallen“ soll.

Wie immer man zu dem Land steht: Man sollte es sich nicht zu einfach machen. Recep Tayyip Erdogan ist hierzulande für viele zum Sündenbock geworden und praktisch für alles verantwortlich, was es an Negativem aus einer im Umbruch befindlichen Türkei zu berich­ten ist. Das ist nicht nur irrational, es ergibt auch eine Art Pingpong zwischen zwei, an sich befreundeten Völkern.

Die Türken können da auch lustig mitspielen. Jüngst erst hat sich der türkische Außenmister Davatoglu besorgt über die „Menschenrechtslage rund um die Gefahrenzonen in Hamburg“ geäußert. Sollten wir bald von türkischen Menschenrechtlern Besuch bekommen?