Hintergrund: Ägyptens Umsturz lähmt das Leben in Gaza – und stärkt die Hamas. Von Andrea Krogmann

Rafah (KNA). Es ist ungewöhnlich still in Rafah. Nur gelegentlich passiert ein mit Zement oder Kies beladener LKW den Kontrollposten. Die aktuellen Ereignisse im Nachbarland Ägypten sind deutlich spürbar im Gazastreifen. Der Personenübergang ist stark eingeschränkt, rund 80 Prozent der Schmugglertunnel im sogenannten Philadelphia-Korridor – Gazas Hauptversorgungsquellen – sind vom ägyptischen Militär lahmgelegt. Für die Hamas ist der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi ein harter Schlag. Unklar ist, wie dies den künftigen Kurs der Hamas und das Kräfteverhältnis zum Rivalen Fatah beeinflussen wird.

Die wenigen noch aktiven unterirdischen Durchgänge werden vor allem nachts genutzt, erzählt ein Tunnelbesitzer, dessen Gang vom Militär auf ägyptischer Seite zerstört wurde. Noch hat er Hoffnung, dass mit ein bisschen Geduld der illegale Verkehr wieder aufgenommen werden kann. Zwei Millionen Dollar will der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, in seinen auf Autos spezialisierten Durchgang investiert haben. Zu Spitzenzeiten seien hundert Autos täglich durchgeschleust worden, für 1.000 Dollar, rund 750 Euro, pro Wagen – ein lukratives Geschäft.

Neben Autos und Treibstoff sind es vor allem Güter des täglichen Bedarfs, die die rund 1.000 unterirdischen Durchgänge im Süden Gazas passieren. „Vor dem Tunnelhandel war es schwierig, auch nur einen Satz gleiche Teller oder Tassen in Gaza zu finden“, sagt ein anderer Tunnelbesitzer. Jetzt spürten die Verbraucher die neue Lage in Ägypten. „Es mangelt an allem, was sonst durch die Tunnel gekommen ist.“

Dem Taxifahrer Lutfi macht vor allem die Spritversorgung Sorgen: „Seit die Tunnel geschlossen sind, hat Israel zwar die Benzineinfuhr erhöht, aber verglichen mit Benzin aus Ägypten ist es doppelt so teuer.“ Für viele Bewohner, auch Kleinunternehmer und Fischer, werde der Treibstoff unbezahlbar. Auch in der Baubranche haben laut palästinensischen Quellen 20.000 Menschen ihren Job verloren. Mangels Materialnachschub aus Ägypten liege die Arbeit brach.

Die historisch aus den ägyptischen Muslimbrüdern hervorgegangene Hamas ist in einer schwierige Lage, wie Politologe Usama Antar in Gaza-Stadt erläutert. „In den letzten Jahren bewegte sich die Hamas in Richtung Pragmatismus. Sie hat mehr internationale Kooperation gesucht und war auf dem Weg zu einer parteipolitisch realistisch orientierten, konservativen Partei“, so Antar. Statt an der alten Achse Iran-Hisbollah-Syrien orientiere sich die Organisation stärker in Richtung Ägypten, Türkei und Katar – aber setze damit womöglich aufs falsche Pferd.

Mit dem Machtwechsel in Katar und dem Sturz Mursis seien die wichtigsten Partner auf einmal weggebrochen, erklärt Antar, „der 'worst case' für die Hamas“. Nun sieht er den Westen gefordert: Dieser solle „die ganze politische Arena einbeziehen“ und die Hamas nicht ausschließen. „Die Hamas ist Teil der palästinensischen Gesellschaft und frei gewählt. Sie sollte belohnt werden, wenn sie sich pragmatisch zeigt.“

Dies, so glaubt Antar, könne auch einer innerpalästinensischen Annäherung dienen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, zugleich ein führender Fatah-Vertreter, brauche eine Versöhnung mit der rivalisierenden Hamas für die Friedensverhandlungen mit Israel, „aber auch die Hamas braucht Versöhnung, weil sie internationale Anerkennung sucht“. Ohne Unterstützung aus dem Westen, fürchtet der Politologe, könnte die Hamas wieder einen anderen Kurs nehmen, „zurück zum Iran, zum Widerstand, zur Gewalt gegen Israel“.

Im Internet werden unterdessen Rufe nach einer Revolution nach ägyptischem Vorbild lauter. Noch ist es ein Stimmengewirr. Manche fordern den Sturz der Hamas, andere die Versöhnung der beiden Rivalen. Wieder andere wollen eine gesamtpalästinensische Revolte „gegen Unterdrückung und Trennung, gegen jene, die Wahlen verhindern“. Eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Palästinensische Rebellion“ und inzwischen über 20.000 Anhängern schreibt in einem Aufruf, es gebe keinen legitimen Mandatsträger mehr „außer dem Volk“.