Hintergrund: Circumcisio – die Beschneidung beim Manne. Einige Anmerkungen von Ahmad Kreusch

(iz). Alle echten Religionen haben Reingungs- und Hygiene-Vorschriften und Empfehlungen, die helfen sollen, die Menschen besser zu schützen im Umgang miteinander und im Umgang mit sich selbst. Man denke nur an die reichliche Verwendung von Wasser, das bei den meisten alten Religionen auch rituell eingesetzt wird, um wenigstens dadurch einen Mindeststandard an Sauberkeit und Hygiene zu schaffen. Ein Standard, der auch dann eingehalten werden kann, wenn die äußeren Umstände sehr einfach sind, also kein „modernes Bad-Ambiente“ zur Verfügung steht. Ziel ist dabei vor allem das körperliche, aber auch das seelische Wohlbefinden. Man fühlt sich nicht wohl, wenn man unsauber ist, vor allem wenn man schon von Kind an gelernt hat, sich zu reinigen, wenn man schmutzig ist.

Im Islam ist Reinheit ein Bestandteil der Religion. Der Islam empfiehlt seinen Gläubigen deshalb eine ganze Reihe von Reinigungsmaßnahmen. Dazu gehören u.v.a. das Zähneputzen mit einem gefaserten Hölzchen des Arrakstrauches, das Händewaschen vor dem Essen, das Säubern der unteren Körperöffnungen mit Wasser und den Fingern der linken Hand, wenn immer dort etwas ausgetreten ist oder abgesondert wurde, und das anschließende sorgfältige Reinigen der Hände. Auch die klare Trennung zwischen der linken Hand, die zum Reinigen benutzt wird, und der rechten, die möglichst immer sauber bleibt zum Essen, zum Begrüßen etc. gehört dazu. Das ist „islamischer Hygiene-Standard“ seit 1.400 Jahren. Für die Ausübung der religiösen Riten gibt es dann noch ganz präzise Reinigungsrituale, um den Zustand der „rituellen Reinheit“ herzustellen. Ein Gebet ist zum Beispiel ohne diesen Zustand „ungültig“.

All diese Regeln gehören zum „Erziehungsprogramm“ der muslimischen Eltern für ihre Kinder, und man beginnt schon damit, wenn diese noch sehr klein sind. Durch diese Erziehung zur Sauberkeit entsteht erwiesenermaßen schon früh im Vorschulalter ein Verantwortungsgefühl für den eigenen Körper, das untrennbar verbunden ist mit dem Bewusstsein für Würde, Schamgefühl und Respekt. Nun hatte der Westen Jahrhunderte lang praktisch keinerlei Hygiene-Standards. Woher sollten die Menschen hier auch das Wasser nehmen. Vielleicht gab es gerade mal auf dem Marktplatz einen Brunnen, oder einen außerhalb der Stadt, ein „Brunnen vor dem Tore“, oder man hatte das Glück, einen Fluss in der Nähe zu haben.

Die stinkenden Städte und Dörfer Europas standen im krassen Gegensatz zu den orientalischen Städten, in denen an jeder Straßenecke aus einem Brunnen Wasser sprudelte, das von den Bewohnern fleißig zum eigenen Gebrauch genutzt wurde. Dazu gab es die öffentlichen Bäder, die jeder besuchen konnte. Europäische Reisende schildern das alles sehr genau. Aber anstatt sich an diesen Vorbildern zu „orientieren“, wurde darüber nur gespottet. So entstand zum Beispiel weil man wusste, dass sich die Juden nach jeder Ausscheidung mit der linken Hand und reichlich Wasser reinigen, als verächtliche Geste das Zeigen des so genannten „Stinkefingers“, eine uralte antisemitische Beleidigung. Man darf nicht vergessen, dass die heutigen Hygiene-Standards im Westen keine hundert Jahre alt sind.

Was hat das alles aber mit der Beschneidung der Vorhaut beim männlichen Kind zu tun? Unter der Vorhaut bleiben beim Penis nicht nur nach dem Wasserlassen Urinreste, es können leicht auch andere Unreinlichkeiten, Krankheitskeime u. ä. darunter gelangen, die für Entzündungen und Mykosen sorgen, wie jeder Urologe weiß. Als körpereigene Abwehr bildet sich aus den Talgdrüsen am Rande der Eichel ein weißliches Sekret, das sog. „Smegma“, das man nur abwaschen kann, wenn die Vorhaut extrem (bis hinter die Eichel) zurück gezogen wird. Das aber macht kein kleiner Junge. Auch ein erwachsener Mann macht so etwas nur beim Baden beziehungsweise Waschen im Badezimmer. Also bleibt dieser „Belag“ unter der Vorhaut, zersetzt sich und hat allerlei Folgen, von denen der Juckreiz noch das Geringste ist. Wenn die Vorhaut dagegen nicht mehr vorhanden ist, genügt ein Spülen mit Wasser zur Reinigung. Das aber ist relativ problemlos auf jeder Toilette möglich. Wenn nicht, wird der Mann bei der nächst-möglichen Gelegenheit versuchen, sein Glied reinigen, denn allein schon das Gefühl, dort unsauber zu sein, erinnert ihn daran.

Die oben erwähnten Unreinheiten sind aber nicht nur für den Mann gefährlich. Auch Frauen können beim Geschlechtsverkehr auf diese Weise Krankheiten mitbekommen. In den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde medizinisch-wissenschaftlich eindeutig festgestellt, dass besonders durch nicht abgewaschenes „Smegma“, vom Penis ja ständig produziert, bei Frauen Gebärmutterhals-Krebs ausgelöst wird. Daraufhin gab es damals sogar Pläne seitens der USA-Regierung, die Entfernung der Vorhaut für alle Männer zu Pflicht zu machen. Tatsächlich werden heute in Amerika die meisten männlichen Kinder bald nach der Geburt beinah routinemäßig beschnitten als prophylaktische Hygiene-Maßnahme zum Besten des kleinen Jungen, der irgendwann mal ein Mann sein wird.

Mit Religion hat das meist noch gar nichts zu tun. Noch weniger ist das als „Körperverletzung“ zu sehen. Es ist eine Maßnahme zur Erleichterung des Lebens, eine Prophylaxe wie die heutigen Schutzimpfungen in den ersten Monaten nach der Geburt, die den kleinen Kindern ja auch „ohne ihr Einverständnis“ angetan werden.

Angesichts all dieser Tatsachen erweist sich dieser uralte Brauch, der auf ein Gebot Gottes an Seinen Propheten Abraham (arab. Ibrahim) zurück geht, als ein Segen für die Menschheit, nicht nur für Juden und Muslime. Man findet diese Sitte auch bei vielen anderen Völkern Asiens und Afrikas. Auch dass die Beschneidung beim Jungen am besten gleich in den Wochen – bei den Juden am 8. Tag – nach der Geburt durchgeführt werden soll, hat seinen Sinn: das volle Schmerzempfinden des Säuglings entwickelt sich bekanntlich erst später, sonst wäre vor allem die Austreibungsphase bei der Geburt für das Kind ungeheurer schmerzhaft. Auch das ist ein Zeichen für die liebevolle Sorge des barmherzigen Gottes für seine Geschöpfe. Das alles ist aber auch ein Beweis dafür, dass Anweisungen einer echten Religion meist ihren natürlichen Sinn haben, auch ohne detaillierte Erklärung und Begründung, selbst wenn sie „nur“ religiös vorgeschrieben sind. Kritisch wird es erst bei späteren Erlassen und Dogmen, die meist bestimmten Interessen dienen.

Im Islam ist die „Circumcisio“ zwar nicht absolute Bedingung für die Zugehörigkeit zur Religion Gottes, aber sie wird dringend empfohlen. Auf Grund des bisher Gesagten kann sie ohne weiteres auch zu den vielen Pflichten der Männer gegenüber den Frauen gezählt werden, denn alle Anweisungen im Islam, die das Verhalten zwischen Männern und Frauen regeln, haben vor allem einen Grund: den Schutz der Frauen. Der bösartige Vergleich der „männlichen Beschneidung“ mit der Genitalbeschneidung bei Frauen ist völlig daneben. Beides hat nichts miteinander zu tun.

Die Kölner Richter, die neuerlich die Knaben-Beschneidung kriminalisiert haben, werden mit Sicherheit nichts von diesen Zusammenhängen gewusst haben. Diese Ignoranz wird dann wie schon beim Kopftuchverbot oder beim Verbot des betäubungslosen Schlachtens durch Vorurteile und die berühmte oberflächliche „gängige Meinung“ ersetzt. Ein genaueres Hinschauen scheint aber auch gar nicht erwünscht zu sein. Denn dann würde sich der „Vorwurf“, dem Kind zu schaden, als das genaue Gegenteil herausstellen, als eine richtige und wichtige Maßnahme zum Wohle des Kindes, für das nicht irgendeine „religiöse Obrigkeit“, sondern die Eltern selbst zu sorgen haben.

Warum werden nicht die beschnittenen Männer selbst gefragt? Ähnlich wie bei den Befragungen, die man bei muslimischen Frauen durchgeführt hat, von denen sich keine durch das Kopftuch unterdrückt fühlte, würde sich herausstellen, dass auch ein Mann seine Beschneidung kaum bedauert. Im Gegenteil: Es gibt heute genügend Männer, die sich erst als Erwachsene haben beschneiden lassen, nachdem sie Muslime geworden sind und sich seitdem um Sauberkeit ihrer so genannten „private parts“ bemühen. Ich gehöre auch dazu. Wir alle kennen beide Seiten, und wenn man schon mal ab und zu unter Freunden darüber spricht, wird klar, dass man sich früher gar nicht bewusst war, permanent unsauber „im eigenen Dreck“ zu sitzen. Man hatte sich dran gewöhnt. Man wusste nichts anderes.

So gesehen sind die Argumente der Kölner Richter, aber auch die breite Zustimmung, die sich in Leserbriefen und Stammtischgesprächen äußert, nichts anderes als ein Zeichen jener arroganten, ignoranten Besserwisserei, seit jeher ein Hauptmerkmal jener rassistischen Überheblichkeit, die wir nicht erst seit der Nazi-Zeit kennen. Schlimm, wenn dann aus dieser Ignoranz ein Urteil oder ein Gesetz wird.

Das Hauptargument für das Kölner Urteil ist aber offenbar der „religiöse Zwang“, den man argwöhnt, und der angeblich unserer „freiheitlich/demokratischen Grundordnung“ wiederspricht. Aber was ist denn dann mit der Kindstaufe, Erstkommunion und Firmung bei den Katholiken? Oder Kindergarten- und Grundschulpflicht? Wird das alles demnächst auch verboten, weil das Kind „sich nicht selbst dafür entscheiden kann“?

So wird wieder eine „Maßnahme“ per Gesetz eingeführt, um den Muslimen ihr Leben schwer zu machen. Diesmal sind auch die Juden betroffen. So wird jetzt wirklich einmal deutlich, dass diesen „Maßnahmen“ die gleiche Sprache eines pseudowissenschaftlichen Rassismus sprechen, die wir schon einmal vor 80 Jahren gegen die Juden gehört und gelesen haben. Auch die Verschwörungstheorie von der „Gefahr einer schleichenden Islamisierung“ hat eine Parallele: damals war es die Angstmache vor dem „bolschewistischen Weltfinanzjudentum“, das uns unterwandert.

In den 1960er Jahren kaufte ich auf einem Flohmarkt für ein paar Groschen einige Exemplare der Nazi-Zeitung „Stürmer“, weil ich die rassistischen Parolen des „3. Reiches“ einmal im genauen Wortlaut lesen wollte. Natürlich wurde auch das Thema „Beschneidung“ der Juden pseudowissenschaftlich durchgehechelt: es sei ein archaisches Stammesritual ähnlich den Schmucknarben, den Tätowierungen oder dem Feilen der Zähne bei „primitiven“ Völkern. Dass man normalerweise bei Juden nichts davon wahrnehme, mache die Sache aber besonders heimtückisch. In diesen Texten fand sich neben vielen anderen unsäglichen, frei erfundenen, bösartigen Diskriminierungen auch eine kurze Definition für die Religion der Juden: sie ist die primitive Stammesreligion eines archaischen semitischen Stammes. Ich habe diese Zeitungen gleich nach dem Lesen verbrannt, sodass ich den Original-Wortlaut nicht mehr genau zitieren kann. Aber interessant wäre es schon, dort mal wieder hinein zu schauen, denn in vielen Artikeln und Reportagen über den Islam, die bei uns ca. seit 1980 u. a. im Spiegel und anderen meinungsprägenden Zeitungen und Medien auftauchen, finden sich verblüffend ähnliche rassistische Formulierungen bei der „Beurteilung“ der Muslime und ihrer Religion, verfasst von Leuten, die offensichtlich keine Ahnung haben, sodass wir Muslime uns häufig fragen, welche Religion denn hier gemeint ist, mit unserem Islam hat das alles nichts zu tun.

Bleibt die Kernfrage zum Rassismus: Warum gibt es Menschen, die offensichtlich aus innerem Drang heraus andere Menschen, die ihnen rein gar nichts getan haben, beleidigen, provozieren, diskriminieren müssen, nur weil sie anders sind, ihnen sogar hinterherlaufen, um ihnen zu schaden, ihnen keine Ruhe lassen, um sie letztendlich zu vertreiben und zu vernichten. „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch!“(Bert Brecht) Er war immer fruchtbar, und er wird immer fruchtbar sein, besonders dann, wenn Staatsmacht und Justiz ihn hoffieren.