Hintergrund: Die Radikalisierung im Irak bedroht auch Deutschland

Ausgabe 229

„Die verwirrende Lage in den Bürgerkriegsregionen wird natürlich Populisten einige Vorlagen geben. Wer die Theorie ‘guilty by association’ nutzen will, findet auf hunderten Internet­foren bereits ohne Mühe die passenden Bilder für die Verbreitung der jeweiligen Feindbilder. Mehr denn je sind heute differenzierende Analysen und Hintergründe gefragt, um das üble Treiben von radikalisierten muslimischen Minderheiten auch richtig einzuordnen.“

(iz). Man muss kein Pessimist sein, um festzustellen, dass von dem Optimismus des Arabischen Frühlings heute nicht viel übrig geblieben ist. Die Lage ist deprimierend. Entweder werden autoritäre Regime einfach nur modernisiert oder Staaten stürzen in furchtbare Bürgerkriege. Die arabische Welt ist nach wie vor nicht in der Lage, die eigenen und importierten Widersprüche friedlich aufzulösen.

Eine ganze Region steht nun im schlimmsten Fall vor jahrzehntelangen Konflikten rund um die auseinander brechenden Nationalstaaten. Die aktuelle Situation im Irak erinnert dabei an Schillers historische Einsicht aus seinem Dreißigjährigen Krieg; dort stellt der Dichter fest, dass besonders intensive Formen des Bürgerkrieges sich aus religiösen Gegensätzen nähren. Fakt ist: Im Irak stehen Sunniten und Schiiten heute unversöhnlicher denn je gegenüber.

Das Bild bestimmt dabei nicht etwa die religiöse Demut oder die Aufarbeitung islamischer Geschichte, sondern eher die zunehmende Radikalisierung auf allen Seiten. Eine Befriedung des nach dem „Krieg gegen den Terror“ zerrissenen Irak, scheint heute nur noch nach einer Dreiteilung des „nationalen“ Kunstgebildes überhaupt möglich. Die Regierung Maliki in Bagdad hatte sich mit ihrem autoritären Stil und einer revanchistischen Neuauflage einer Politik gegen Minderheiten längst disqualifiziert.

Jetzt drohen neue Stellvertreterkriege. Für die militärische und finanzielle Unterstützung der jeweiligen Landesteile, die bereits heute in blutige Auseinandersetzungen verwickelt sind, stehen grundsätzlich die Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran längst bereit. Die beiden Staaten repräsentieren den tiefen Gegensatz zweier unterschiedlicher Regierungsformen. Die Monarchie in Riad versucht schon länger, auch immer wieder mit der umstrittenen Stützung radikaler Gotteskrieger, das revolutionäre Potential der Schiiten zurückzudrängen. Mit Argwohn beobachtet das Königshaus auch die 15 Prozent große Minderheit der Schiiten im eigenen Land.

Die Lage im Irak ist verworrener, als es heute in unseren Analysen erscheint. Während westliche Medien in erster Linie die Verbrechen der ISIS-Söldner dokumentieren, deren Ideologie angeblich auf ein islamisches Kalifat gerichtet ist, so ist die Oppositionsbewegung gegen das Regime in Bagdad in Wirklichkeit wohl breiter. Der Publizist Jürgen Todenhöfer, der die Region selbst immer wieder besuchte, ist überzeugt, dass die ISIS-Truppen nur eine kleine Minderheit darstellen und wies zurecht darauf hin, dass zu den kämpfenden Truppen auch weitere Fraktionen, insbesondere aber Säkularisten gehören, enttäuschte Anhänger der Baath-Partei, deren importierte Ideologie wohl wenig mit den Lehren des Islam zu tun haben will. Seit dem Fall Saddam Husseins wurde im Westen wenig über den langjährigen Widerstand gegen die Besatzung geschrieben. Die Amerikaner, so Todenhöfer in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger, hätten gerade diese Gefahr lange totgeschwiegen. Heute ermöglicht der Widerstand der Sunniten die strategischen Raumgewinne der Söldnertruppe ISIS.

Wer steht aber nun hinter den Maskierten? In der ARD-Sendung Günther Jauch schloss der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der SWP-Stiftung eine direkte Unterstützung der USA oder Saudi-Arabien für die Terrorgruppe aus und beschuldigte dagegen die Türkei, ein undurchsichtiges Spiel zu treiben. Echte Beweise für diese Theorie konnte der Experte nicht vorgelegen. Das Spiel bleibt undurchsichtig, auch, weil nicht nur offizielle Staaten, sondern auch Geheimdienste, Oligarchen, Unternehmen und Stiftungen in dem geopolitischen Machtkampf mitspielen. Natürlich dürften sich auch global agierende Ölfirmen bereits für die post-terroristische Phase interessieren.

Nicht nur die westlichen Geheimdienste scheinen in der verworrenen Lage zwischen ehemaligen Verbündeten, religiösen und säkularen Ideologen, zahlreichen Kleingruppen und Stämmen die Übersicht verloren zu haben. Die schmerzliche Gewissheit, die an die Erfahrungen in Afghanistan erinnert: viele Partner der raumfremden Interventionsmächte lassen sich mit Geld eben nur auf Zeit mieten. Fest steht, die Lage in Syrien, Libyen und dem Irak untergräbt zunehmend die alte Idee des Nationalstaates, mit festen Grenzen und homogener Bevölkerung, die in den de facto Vielvölkerstaaten über Jahrzehnte sowieso nur mit autoritären Systemen zu halten waren. Gesucht wird nach einem neuen Nomos, der die Ideologien entmachtet, effektiven Minderheitenschutz leistet und die ökonomischen Probleme der verarmten Bevölkerungen löst.

So nähert sich der arabische Raum und seine Realität des politischen Chaos wieder den Tagen des Ibn Khaldun an. Der Begründer der Wissenschaft der Soziologie hatte bereits im 14. Jahrhundert in seiner berühmten Muqqaddima die heillos zerstrittene politische Landschaft der Stämme und Gruppen beschrieben. Er träumte auch damals schon von machtvoller, politischer Einheit in der Region, natürlich nicht durch die damals unbekannten ideologischen Techniken unserer Zeit, sondern eher durch starke persönliche Herrscher, die durch Assabiyya, die soziale Dynamik der Bevölkerung, an die Macht kommen sollte.

Diese Formen der sozialen Dynamik können aber, so lehrt es der geniale Historiker, höhere oder niedere Formen annehmen und sie seien auch niemals endlos an der Macht, sondern naturgemäß nach der Erringung derselben durch Korruption, Verschuldung und Luxus bereits wieder im notwendigen Niedergang. Die Idee endlosen Wachstums und andauernder Machtsteigerung, so Ibn Khaldun, muss nicht nur scheitern, diese Prinzipien seien auch gegen die eigentliche Natur der Dinge gerichtet.

Heute gibt es wieder neue Formen der Assabiyya; allerdings, eher in der modernen Form militanter Solidarität. Peter Enz beschreibt dieses Phänomen in seinem gleichnamigen Buch als einen unsichtbaren Keim der Revolte, die heute auch wieder in der Entstehung lokaler Terror- und Widerstandsgruppen zu beobachten sind. Im schlimmsten Falle sind diese Gruppen an keinem echten Frieden interessiert, da ihre Ideologie und ihre einkömmliche Kriegswirtschaft den Ausnahmezustand benötigt. In diesen neuartigen Formationen spielen dann auch oft die eindeutigen Mäßigungen des islamischen Rechts, sei es das Verbot des Terrorismus, das humanitäre Kriegsrecht oder die Verurteilung von Selbstmordattentaten keine Rolle oder aber es handelt sich um radikalste Formen des politischen Islam, der – ganz moderne Ideologie – glaubt, das Ziel rechtfertige sowieso jedes Mittel. Bedenklich ist dabei auch, dass die Netzwerke dieser unsichtbaren Vereinigungen, gerade auch im grenzenlosen Internet, bis nach Europa greifen.

Nach dem schändlichen Überfall auf eine Synagoge in Brüssel, vermutlich durch einen Syrien-Kämpfer begangen, sind die Sicherheitsbehörden alarmiert. Im Internet haben die Bilder aus dem Syrien-Konflikt zu einer Radikalisierung von Jugendlichen beigetragen. In den Medien bestimmen diese Radikalen zunehmend die Berichterstattung über den Islam. Die absolute Mehrheit der Muslime in Deutschland blickt natürlich mit Schrecken auf die neuen fatalen Bilder aus dem Irak. Die ungute Mischung aus Religion, Ideologie und Wahnsinn, die auf den deutschen Fernsehkanälen erscheint, sorgt auch hierzulande für überkonfessionelles Befremden. Natürlich ist vor allem die muslimische Lehre gefragt, die fundamentalen Unterschiede zu den Sekten und Kleingruppen offensiv zu vermitteln.

Beinahe alle Moscheen in Deutschland grenzen sich schon lange von dem destruktiven Einfluss des sektiererischen Salafismus ab. Auch, weil die meisten Muslime der bekannten Analyse der Sicherheitsbehörden durchaus zustimmen: „Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist, aber jeder Terrorist ist ein Salafist.“

Die verwirrende Lage in den Bürgerkriegsregionen wird natürlich Populisten einige Vorlagen geben. Wer die Theorie „guilty by association“ nutzen will, findet auf hunderten Internetforen bereits ohne Mühe die passenden Bilder für die Verbreitung der jeweiligen Feindbilder. Mehr denn je sind heute differenzierende Analysen und Hintergründe gefragt, um das üble Treiben von radikalisierten muslimischen Minderheiten auch richtig einzuordnen. Der Begriff „islamischer“ Terrorismus ist dabei in der Anwendung so sinnvoll wie die Idee eines „islamischen“ Bankraubes. Auch der Begriff „Islamismus“ bleibt in seiner Unbestimmtheit fragwürdig, gerade auch, wenn in ein und derselben Schnittmenge „Mörder, Verbrecher, Funktionäre und Orthodoxe“ zusammengefasst werden.

Wer das Phänomen Islam heute in Deutschland positiv erklären will, muss das strategische Zusammenspiel zwischen modernen Ideologien und muslimischen Kleingruppen näher untersuchen. Autoren wie Navid Kermani haben dabei zu Recht auch auf die paradoxe Nähe des militanten „Islamismus“ mit dem Nihilismus verwiesen. Natürlich gehen auch viele Muslime in Europa diesen Fragen nach dem Zusammenspiel des Islam mit der Moderne nach. Sie wissen, dass ihre Lebenspraxis über Jahrhunderte nicht nur die freie Marktwirtschaft praktiziert hat, sondern auch auf politischer Mäßigung beruhte und in der Geschichte zuverlässig alle Minderheiten schützte.