Hintergrund: Eine Sadaqa ist weit mehr als nur eine „milde Gabe“ im üblichen Sinne

Ausgabe 207

„Diejenigen, die ihren Besitz bei Nacht und Tag, insgeheim oder offen, spenden – denen ist ihr Lohn von ihrem Herrn (gewiss) und sie brauchen keine Angst zu haben, noch werden sie traurig sein.“ (Sure Al-Baqara, 274)
„O ihr Gläubigen, macht nicht eure Wohltätigkeit durch Vorhaltungen und verletzende Worte zunichte, wie der, der seinen Besitz ausgibt, um von den Leuten gesehen zu werden und nicht an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag! Das Gleichnis dessen ist wie das Gleichnis eines Felsens mit Erde darauf, und es trifft ihn ein Platzregen und lässt ihn hart. Diese erreichen nichts mit ihrem Verdienst, denn Allah leitet die ungläubigen Leute nicht.“ (Al-Baqara, 264)
„Macht euch gegenseitig Geschenke, denn diese vertreiben Abneigung.“ (Prophetische Überlieferung)
(iz). Das Handeln in der Welt, wird im Islam von zwei wesentlichen Bestandteilen geprägt: Taqwa gegenüber Allah und Barmherzigkeit gegenüber der Schöpfung. Taqwa geht weit über den heute teilweise verwendeten Begriff der – christlich definierten – „Demut“ oder „Gottesfurcht“ hinaus und beschreibt denjenigen Zustand, in dem der Muslim in seinem Handeln und seinem Lassen der Anwesenheit Allahs gegenwärtig ist und sein Verhalten dementsprechend ausrichtet.
Die Barmherzigkeit gegenüber der Schöpfung hat verschiedene Aspekte und behandelt den gesamten Umgang mit Welt. Einer der entscheidenden Punkte dabei ist die Handlung, die im Arabischen als „Sadaqa“ bekannt ist. Die sprachliche Wurzel der Sadaqa ist die der Aufrichtigkeit, so wurde Abu Bakr, dem ersten Khalifen und engsten Gefährten des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, der Beiname „As-Sidiq“ verliehen, weil er dem Gesandten Allahs immer ohne jegliches Zögern aufrichtig beigestanden hat, auch wenn andere zweifelten.
In diesem Fall verweist es auf die aufrichtige Tat, die der Not der Situation entspricht. Dies ist jenes Geben beziehungsweise Handeln, das weder rechtlich vorgeschrieben ist, wie die Zakat (Pflichtabgabe auf das Vermögen) oder die Ersatzleistungen, die durch das islamische Recht vorgesehen sind, wie beispielsweise die Armenspeisung, wenn jemand das Fasten im Monat Ramadan nicht durchhalten kann.
Ebenso unterscheidet sich die Sadaqa vom Handeln im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen, das heißt sie ist keine „Formalität“ wie gesellschaftliche Umgangsformen, Höflichkeit mit dem Hintergedanken eines materiellen Gewinns oder Unterwerfungsgesten gegenüber Stärkeren.
Wie in allen Bereichen des allgemein gültigen menschlichen Verhaltens auch, haben wir Muslime das beste Beispiel im Gesandten Allahs und in der frühen Gemeinschaft der Muslime. Es gibt unzählige Berichte darüber, wie der Gesandte Allahs, seinen geringen Besitz regelmäßig als Sadaqa weggeben hat. Bekannt geworden ist seine Aussage: „Was wir hinterlassen ist kein Erbe, sondern Sadaqa“. Bekannt ist der Rat des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden, an die Frauen Medinas: „Oh Frauen, die ihr Iman habt! Lasst euch nicht davon abhalten, euren Nachbarn zu geben und sei es der gebratene Schwanz eines ­Schafes.“
In seiner Lebenszeit und nach seinem Tode wurde es zu einer quasi Institution, dass Besucher und Einwohner von Medina, die Sadaqa geben wollten, dass sie zu den Frauen des Propheten gekommen sind und diesen ihre Güter überreichten, da diese die soziale Lage der Gemeinde sehr gut kannten und am besten wussten, wem etwas zu geben war und wem nicht. Ebenso überliefert sind die Augenblicke, in denen große Gefährten wie Abu Bakr, ‘Umar, ‘Uthman und auch viele andere ihr gesamtes Vermögen ­beziehungsweise die Hälfte davon dem Propheten gegeben haben, damit dieser es verwenden konnte. Vom zweiten Khalifen ‘Umar Al-Faruq wird berichtet, wie er persönlich des Nachts dafür Sorge trug, dass Witwen Brennholz und Wasser hatten.
Wie schon erwähnt, lässt sie die Sadaqa nicht mit dem bekannten Konzept der „Almosen“ oder der „mildtätigen Gabe“ übersetzen, da diese das Geben moralisch bestimmen und so den viel weiteren Zusammenhang ignorieren. Auch ist sie im engeren Sinne keine muslimische Variante der Entwicklungshilfe für die entsprechenden Empfänger, wie es heute gelegentlich praktiziert wird. Entscheidend für eine – von Allah – akzeptierte Sadaqa ist, dass sie nicht aus Zweckgründen gegeben wird, wie zum Beispiel einem Interesse an öffentlichem Ansehen oder die Erwartung einer Belohnung, noch geht es hierbei um das neurotische Geflecht von „Sünde“ und „Erlösung“, dem der Spender zu entkommen sucht.
Es gehört zum Bestand islamischer Weisheit, dass das Geben nicht eigentlich als ein Verlust zu verstehen ist. So gibt es vielfältige Überlieferungen, wonach Allah den Wert des Gegebenen vervielfachen wird. Ebenso ist es muslimische Lebenspraxis, das Selbst durch Geben zu erziehen. Wer sich in die Lage bringt, sich durch das Geben des Besten dessen, was sich in seinem Besitz befindet, von der den Gütern dieser Welt zu lösen, hat bereits ein Stück auf dem Weg der spirituellen Entwicklung hinter sich gelassen. Allerdings ist damit in keiner Weise ein Art Askese oder Verzicht gemeint, denn Sadaqa gilt nur als vollwertig, wenn sie freiwillig und auch freimütig gegeben wird.
Obwohl das Geben der Sadaqa zu den vollkommen freiwilligen Dingen im Rahmen der islamischen Lebenspraxis zählt, folgt sie doch gewissen Regeln, die sowohl durch die qur’anische Offenbarung bestimmt werden, als auch durch die prophetischen Überlieferungen und die Praxis der frühen Muslime. Außerdem haben sich in der muslimischen Welt unterschiedliche Traditionen in ihrer Praxis herausgebildet.
So gilt zum Beispiel, dass niemand von seinem Vermögen mehr als ein Drittel zu einem Vermächtnis nach seinem Tode machen kann. Ebenso muss er frei sein von verpflichtenden Abgaben, das heißt, er oder kann nichts geben, wenn auf das Vermögen noch die Zakat oder auch Schulden zu bezahlen sind. Was das zu spendende Gut betrifft, so muss sich der Spender im vollen Eigentumsrecht befinden, das heißt, man kann nur das geben, was einem auch gehört. ­Gleichermaßen muss die Spende eine akzeptable Herkunft haben. Man kann nichts geben, was seinen Ursprung in unerlaubten Dingen – Glücksspiel, Diebstahl, Wucher etc. – hat.
Was den Akt der Sadaqa selber betrifft, so erwähnt Allah ausdrücklich im Qur’an (Al-Baqara, 271), dass es besser für den Muslim ist, im Geheimen zu geben, da die Sadaqa so eine Sache zwischen ihm und Allah bleibt und man so mit ihr nicht prahlen kann. Aus diesem Grund haben die Osmanen die so genannten „Sadaqa-Steine“ entwickelt, bei denen sowohl das Gegebene nicht zu erkennen war, als auch, was der Empfänger genommen hatte (siehe Infobox auf S. 22).
Nach einer prophetischen Überlieferung ist „die Hand, die gibt, besser als diejenige, die nimmt“. Nichtsdestotrotz werden die Muslime im Qur’an angewiesen, die Bettler nicht von sich zu weisen und sie zu speisen.
„Beim Geben von Zakat und Sadaqa (freiwilligen Spenden) ist es von größter Wichtigkeit, sich korrekt zu verhalten. Der Gebende sollte sich bei dem Nehmenden bedanken, denn durch ihn kann er seine Verpflichtung erfüllen und den gewaltigen Lohn erlangen, den Allah den Gebenden verspricht. Außerdem wird wird er durch seine Gabe noch vor Unheil, Schaden und vielerlei Arten Unannehmlichkeiten bewahrt“, schreibt der türkische Sufi-Schaikh Osman Nuri Topbas über die Höflichkeit der Sadaqa.
Dschalaluddin Rumi sagte zum Thema: „Gib deine Existenz und deinen Wohlstand hin in Werken der Wohltätigkeit, um damit die Herzen der Menschen zu erwerben. Die Bittgebete ihrer Herzen für dich werden dir dein Grab mit göttlichem Licht erhellen.“
Rumi sah in den Armen eine Gelegenheit für die Reichen, ihrer Dankbarkeit Allah gegenüber Ausdruck zu verleihen. So wie Allah den Wohlhabenden von Seiner Gnadenfülle gewährt hat, können sie die Gnadenfülle Allahs für die Armen widerspiegeln.