Interview: Extremismusforscher warnt vor möglichen NSU-Nachahmern

Auch Wissenschaftler haben den NSU-Terror nicht kommen sehen. Der Extremismusforscher Frindte mahnt zur Selbstkritik und warnt vor NSU-Nachahmern. Das Potenzial für solche Gruppen sei sogar gewachsen.

Jena (dpa). Gut zweieinhalb Jahre nach Auffliegen der Terrorzelle NSU sieht der Jenaer Extremismusforscher Wolfgang Frindte die Gefahr durch Nachahmer nicht gebannt. Die Rechtsextremen hätten sich in den vergangenen Jahren stark vernetzt – bis hinein in rechtspopulistische Bewegungen, sagte der Psychologe der Nachrichtenagentur dpa. Auf einem Kongress in Jena beraten von diesem Donnerstag an mehr als 100 Wissenschaftler, welche Konsequenzen sie ziehen müssen und wie sie sich besser aufstellen.

Frage: Herr Frindte, Sie haben ausführlich über das Milieu geforscht, aus dem die NSU-Zelle hervorgegangen ist. Wie fruchtbar ist dieser Schoß, aus dem der NSU kroch, heute noch? Sehen Sie die Gefahr eines NSU zweiter Generation?

Antwort: Nach meiner Einschätzung ist das Potenzial, aus dem eine solche Untergrundgruppe entsteht, heute sogar noch größer. Denn die rechtsextremen Milieus haben sich in den vergangenen Jahren viel stärker vernetzt und reichen bis in rechtspopulistische Bewegungen hinein. Rechtsextreme versuchen zudem Lücken zu füllen, die die Zivilgesellschaft hinterlässt und organisieren etwa Feste auf dem Land. Da treten sie als Menschenfreunde auf, aber freundlich sind sie nur zu denen, die für sie die echten Deutschen sind.

Frage: Angesichts von Personalquerelen und Finanzproblemen scheint die NPD als politischer Arm jedoch in der Defensive zu sein.

Antwort: Meine Meinung ist ganz klar: Die NPD gehört verboten. Das ist aber nicht die Lösung all dieser Probleme. Es werden sich Nachfolgeorganisationen herausbilden, vielleicht in der Illegalität. Die freien Kameradschaften sind jedoch viel gefährlicher. Sie sind die starken Akteure im rechtsextremen Milieu. In diesen Aktivitäten der Rechtsextremen außerhalb der Parlamente liegt die große Gefahr.

Frage: Studien zeigen, dass fremdenfeindliche Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft reichen. Wie ist dagegen anzukommen? Reicht es, gegen Neonazi-Konzerte zu demonstrieren?

Antwort: Es braucht funktionierende Landesprogramme gegen Rechtsextremismus in allen Bundesländern, aber auch Aktivitäten auf lokaler Ebene. Wenn Rechtsextreme die Mittel haben, in einem Ort eine Kirmes zu veranstalten, dann braucht die Zivilgesellschaft auch Geld, um eine bessere Kirmes auszurichten.

Frage: Die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen und des Versagens von Ermittlungsbehörden ist bisher vor allem Sache von Justiz und Parlamenten. Was kann die Wissenschaft beitragen?

Antwort: Seit 1990 gab es etwa 5200 wissenschaftliche Arbeiten zum Rechtsextremismus, darunter etwa 30 Prozent empirische Studien: Interviews, Befragungen und so weiter. Es ist viel geforscht worden, aber dass sich so eine Mörderzelle herausbildet, dass ist in keiner dieser Studien erkannt worden. Wir müssen uns selbstkritisch die Frage stellen, inwiefern wir Wissenschaft betreiben, die nutzlos ist.

ZUR PERSON: Der Sozial- und Kommunikationspsychologe Wolfgang Frindte lehrt und forscht an der Universität Jena. Der 62-Jährige hat sich zuletzt unter anderem mit den Lebenswelten junger Muslime beschäftigt. Er ist Organisator der Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie vom 19. bis 22. Juni in Jena zum Thema «Nationalsozialistischer Untergrund, Rechtsextremismus und aktuelle Beiträge der Friedenspsychologie».