Im Ramadan die soziale Funktion des Essens verstehen

Ausgabe 240

(iz). Eigentlich kommt jetzt die Zeit der Übung, für eine begrenzte Dauer pro Tag mit nichts von dieser Welt auszukommen. Obwohl vielerorts in der muslimischen Welt die Nacht zum Tage gemacht wird, und Haushalte – ironischerweise – mehr Geld für Lebensmittel als sonst ausgeben, bleibt ein Ratschlag von Imam Al-Ghazali gültig. Wir sollten im Ramadan so wenig wie möglich zu uns nehmen und einen möglichst geringen Aufwand mit dem Essen betreiben.

Die Einladung: Eine Ausnahme dazu – auch in spiritueller Hinsicht – stellt das gemeinschaftliche Fastenbrechen und die Einladung anderer dar. Gerade in Deutschland und Ländern, in denen Muslime eine kleine Minderheit sind, hat sich der schöne Brauch eingebürgert, Besucher in Moscheen zum Fastenbrechen einzuladen. Und seit Jahren organisieren Muslime darüber hinaus für die breitere Öffentlichkeit Veranstaltungen, auf denen regelmäßig oder einmalig ein Essen zum Fastenbrechen gereicht wird.

Für solch einen Anlass ist es legitim, einen angemessenen (aber nicht übertriebenen) Aufwand zu betreiben. Wie andere Dinge des Alltags auch hat Gastfreundschaft einen spirituellen Kern. Sie kittet brüchige soziale Bindungen, führt die Herzen zusammen und ehrt alle Beteiligten.

Allah erinnert uns im Qur’an daran, dass das offene Haus gegenüber dem Gast zu den Eigenschaften der Propheten zählt. Das wird am Beispiel Ibrahims, Friede sei mit ihm, ersichtlich: „Ist zu dir die Geschichte von den geehrten Gästen Ibrahims gekommen? Als sie bei ihm eintraten und sagten: ‘Frieden!’ Er sagte: ‘Friede! – Fremde Leute.’ Er schlich sich zu seinen Angehörigen und brachte (zum Essen) dann ein ansehnliches Kalb her. Er setzte es ihnen vor; er sagte: ‘Wollt ihr nicht essen?’“ (Adh-Dharijat, 24-27)

Aussagen des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wie diese dienen als weitere Ermutigung, einzuladen und andere im Ramadan willkommen zu heißen: „Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinen Gast ehren.“ Zu den Gastgeber-Pflichten gehören die Begrüßung der Besucher, die Sorge um ihre Bequemlichkeit und Erleichterung sowie ihre freundliche und sorgsame Behandlung, soweit es einem möglich ist.

Es wurde von ‘Abdallah ibn Salam überliefert, dass der Gesandte Allahs, Friede und Segen auf ihm, sagte: „Oh Leute, verbreitet den Friedensgruß, gebt Nahrung und betet, wenn die Leute schlafen. Ihr werdet das Paradies in Frieden und Sicherheit betreten.“ Auch deshalb sind Muslime aufgerufen, ihren Gästen Essen anzubieten. Nicht nur, weil das ein Zeichen von Großzügigkeit ist, es führt sie auch zur Zufriedenheit Allahs.

Abu Huraira berichtete vom Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Das Essen für zwei Leute reicht für drei Personen. Und eine Mahlzeit für drei reicht für vier Leute.“ Ein Gastgeber sollte – innerhalb und außerhalb des Ramadan – nicht geizig sein und sich auch nicht um seine Vorräte sorgen. Vielmehr sollte er angesichts dieser prophetischen Worte großzügig sein. Wir erhalten durch sie einen Hinweis, dass das Teilen der Nahrung dazu führt, dass Allah dem Essen Segen (arab. Baraka) verleiht und es für alle reicht.

Natürlich ist es auch empfohlen, wie eine Überlieferung von Abu Huraira andeutet, dem Gast alle verfügbaren Speisen und Getränke anzubieten und ihn zu bedienen. Es bleibt aber manchmal ein schmaler Grat zwischen Fürsorge und unbewusster Nötigung. Gerade in sehr traditionellen Familien im Westen sowie in einigen muslimischen Ländern hat das Auftischen ungeheurer Mengen an Leckerbissen beim gemeinsamen Essen einen sehr hohen Wert bekommen. Niemand, selbst der höflichste Gast, ist gezwungen, mehr zu essen, als ihm gut tut. Im Gegenteil, es gehört zur muslimischen Lebenspraxis, beim Essen aufzuhören, bevor man gesättigt ist. Auch muss niemand etwas zu sich nehmen, das ihm nicht schmeckt oder nicht bekommt. Hier wäre es kein Stilbruch, freundlich abzulehnen.

Morgens: Die morgendliche Mahlzeit vor Einsetzen der Fastenzeit (Suhur) gehört zur Praxis des verpflichtenden und freiwilligen Fastens. Es war eine Sunna des Gesandten: „Nehmt den Suhur ein, denn im Suhur ist ein Segen“, heißt es in einer Überlieferung. Zur Sunna gehört auch, so spät wie möglich vor der Morgendämmerung zu essen. In unseren Breiten und in den nächsten Jahren stellt sich für Muslime, gerade im Norden, wegen der Kürze der Zeit die Frage, entweder bis zum Suhur wachzubleiben, oder sich hinzulegen.

Auch aus diesem Grund raten Experten zu leichten Mahlzeiten (siehe Infokasten) und ausreichend Flüssigkeit. Das helfe dabei, die langen Tage des mitteleuropäischen Sommers besser durchzuhalten. Das Zähneputzen sollte man auch vor dem Beginn der Morgendämmerung erledigt haben, da man nach einigen Rechtsschulen keinen Geschmack im Mund haben soll und während des Fastens dabei Wasser verschlucken könnte.

Eine Erfahrung, die viele Muslime in nichtmuslimischen Ländern machen, ist die, dass sie sich in ihrem Fasten von den anderen Menschen unterscheiden. Das muss, in der Feststellung vieler, nichts schlechtes sein. Verleiht es doch dem Fasten auch die Atmosphäre der Besonderheit und lässt sozialen Druck als Grund für das Fasten unwichtiger werden. Allerdings fehlt hier in Deutschland zumeist auch ein gewisser Flair, den man in manchen Gegenden der Welt noch finden kann. Dazu zählt beispielsweise, dass die Menschen durch Ausrufer von den Minaretten oder Männer mit Trommeln zum Aufstehen angehalten werden. Hier muss morgens, wenn der Fastende sich in der frühen Nacht hingelegt hat, der Digitalwecker als Ersatz herhalten.

Abends: Angesichts der alten – und entstehenden – Traditionen der muslimischen Welt wäre es vermessen, nur von einem Weg zu sprechen, wie deutsche Muslime ihr Fasten brechen. Viele Muslime, beispielsweise mit türkischstämmigen Hintergrund nehmen ihre Mahlzeit direkt nach dem Ruf zum Abendgebet ein, das Gebet selbst wird erst nach dem Essen verrichtet. Andere, gerade in arabischen Gemeinden, brechen ihr Fasten mit einer Handvoll Datteln sowie Wasser oder Milch und beten dann. Erst danach gibt es eine Mahlzeit.

Auch anderswo bestehen Unterschiede: Viele Angehörige der ersten und zweiten Einwanderergeneration legen Wert auf umfangreiche Mahlzeiten. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass nicht wenige körperlich hart arbeiten beziehungsweise daran gewöhnt sind. Jüngere oder neue Muslime reduzieren mittlerweile den Umfang und die Schwere ihrer Mahlzeiten. Manche begnügen sich beispielsweise mit einer nahrhaften Suppe (wie dem marokkanischen Klassiker, der Harira) und gesunden Beilagen – auch aus spirituellen Gründen. Andere achten vielleicht zusätzlich auf ihr Gewicht und ihre Leistungsfähigkeit, die sie nicht durch übermäßiges Essen gefährden wollen.

Wer die Umkehrung von Tages- und Nachtzeit aus Teilen der muslimischen Welt, oder gar zwei opulente Festmähler am Abend, gewöhnt ist, wird sie in Europa nicht überall finden. Dafür vielleicht aber auf neue-alte Tradition stoßen, die sich auf die Essenz dieses Monats besinnen.