Bosnien im Herbst

Ausgabe 245

(iz). Zum diesjährigen Id Al-Adha hielt der bosnische Großmufti, Husein ef. Kavazovic, seine traditionelle Festansprache. Er warnte die Bosniaken vor den Gefahren extremistischer Ideologien. Diese seien nie der Weg der bosnischen Muslime gewesen. Eindringlich forderte er die Menschen dazu auf, nicht nach Syrien in den Krieg zu ziehen um den IS zu unterstützen. Dieser habe mit der islamischen Tradition nichts zu tun. Im Gegenteil, die islamische Tradition, vor allem in Bosnien, sei es schon immer gewesen, gemeinsam und friedlich mit den nichtmuslimischen Nachbarn und Freunden zu leben und diese zu den beiden Festen einzuladen, mit ihnen das Essen und schöne Worte zu teilen.
Das war sozusagen mein Willkommensgruß, als ich am 24. September, am ersten Festtag in Bosnien landete und die Ansprache über das Radio mit anhören konnte. Es folgten zwei Wochen verschiedenster Eindrücke, die mir zeigen sollten, wie wichtig die Worte des Muftis waren und welche Bedeutung die islamische Tradition in diesem Land hat.
Die Lage in Bosnien und Herzegowina ist sicherlich keine gute. Junge Menschen, insbesondere Akademiker, verlassen das Land fluchtartig, auf der Suche nach einem wirtschaftlich sicheren Leben in Westeuropa. Bei nicht einmal 4 Millionen Einwohnern ist es erschreckend, wenn Tausende gut ausgebildete und motivierte Leute auswandern. Doch hat jede Motivation ihre Grenzen. So sehr die meisten gerne in der Heimat bleiben würden, verlieren sie hier schlichtweg die Hoffnung auf ein gutes Leben.
Grund dafür ist einerseits die Korruption, die es deutlich erschwert, ohne Bestechung oder gute Beziehungen an einen guten Job oder gar einen Studienabschluss zu kommen. Andererseits sind es die gering ausfallenden Gehälter und die unverschämt hohen Preise für alles, was lebensnotwendig ist. Grundnahrungsmittel sind um einiges teurer als beispielsweise in Deutschland, wobei viele von einem Monatsgehalt von mehr als umgerechnet 500 Euro nur träumen können. Und selbst dieses wäre zu wenig, um die Kosten decken zu können.
Während einige größere Städte durch neue Firmen und Investoren zu erblühen scheinen, sterben andere, kleinere Gebiete fast aus. Es tut sich seit Jahren so gut wie nichts. Schuld daran ist die chaotische politische Situation. Auch 20 Jahre nach Kriegsende werden nationalistische und eigenwohlorientierte Debatten geführt, die für die einen ganz wichtig sind, für die anderen aber vollkommen uninteressant geworden sind. Man hat das Vertrauen in die Politik und die Politiker verloren, wartet man doch nun seit zwei Jahrzehnten auf positive Veränderung.
Das Gegenteil ist der Fall. Viele sprechen wieder von einem möglichen Krieg. Die Föderation und die „Republika Srpska“ (RS) stehen in immer angespannterem Verhältnis zu einander. Die RS strebt die Unabhängigkeit an, es wird ethnische Propaganda betrieben und allmählich hört man wieder Stimmen, die sagen „ich habe Angst vor den Muslimen“, „ich habe Angst vor den Serben“. Angst vor dem Anderen.
Doch dies sind die Probleme des großen Ganzen. Sie sind ein Spiegel des Inneren, denn es herrscht eine allgemein depressive Stimmung unter den Bosniern. Nicht nur in Bezug auf die Gesamtsituation des Landes, sondern auch auf ganz persönlicher, intimer Ebene. Durch die Geschichte hinweg gab es eine Eigenschaft, die sich die Menschen auf diesem Fleckchen Erde immer bewahrt hatten, und diese scheint heute immer mehr in Vergessenheit zu geraten. Sie nennt sich „merhamet“, was man mit Barmherzigkeit oder Wohlwollen übersetzen kann. Von dieser Eigenschaft sprach Mufti Kavazovic.
Die islamische Tradition Bosniens war immer eine Tradition der Barmherzigkeit. Sei es zu Zeiten der Reconquista, oder zu der des Nationalsozialismus: Verfolgte – in diesem Fall Juden – fanden immer Zuflucht bei den Muslimen des Balkans. Während des Bosnienkrieges in den 1990ern waren es Muslime, die nicht glauben konnten, dass tatsächlich ein Krieg ausbrechen würde, lebten sie doch bis dahin friedlich mit ihren christlichen Nachbarn zusammen. Noch wollten sie im späteren Verlauf des Krieges Verbrechen an Kriegsgefangenen oder Zivilisten begehen. Diejenigen, die dies taten, waren entweder extremistische Anhänger der wahhabitischen Mujahideen, oder ebenso extremistische Nationalisten, die sich das Wort Muslim auf die Fahne schrieben, jedoch für nichts annähernd Islamisches eintraten, sondern rein national geleitet waren, während sie nach Saufgelagen in verlassene Wohnungen von Serben oder Kroaten eindrangen, um diese zu plündern. Jedoch waren es auch hier Muslime, die den „merhamet“ lebten und die Andersgläubigen und ihr Land und Gut vor eben solchen Tätern zu schützen versuchten.
Heute scheint die Situation des Landes, in dem sich alle europäischen Fragen der Identität, Wirtschaft, Zugehörigkeit und extremistischer Positionen bündeln, die Barmherzigkeit verdrängen zu wollen. Das moderne Leben – oder besser gesagt der Wunsch danach – lässt das Alte in Vergessenheit geraten. Die verwandtschaftlichen Bindungen werden nicht mehr so geehrt und erhalten, der Gedanke an Geld – und leider auch an „schnellem Geld“, etwa durch Glücksspiel oder Kriminalität – nimmt immer mehr Raum ein. Der Respekt und das friedliche Miteinander verlieren an Bedeutung. Die Jugend beklagt sich, dass nur noch Interessen verfolgt, und keine wahre Freundschaft oder Liebe mehr existiere. Das noble Ertragen der schwierigsten Situationen trifft auf immer weniger Menschen, die es verkraften können oder wollen.
Man sehnt sich nach einem anderen Leben, nach „dem guten Leben“ – oder nach dem, wofür man dieses hält. Es kommt, insbesondere in den Städten, immer weniger vor, dass man sich spontan besucht, dass man das Leben, so schwer es auch sein mag, zusammen lebt und dadurch zusammen leidet aber auch zusammen lacht. Bei allen Schwierigkeiten und Traumata, die das Volk erlitten hat, so gibt es doch noch die kleinen Dinge, an denen es festzuhalten lohnt. Man muss sie nur (wieder)erkennen. Man spricht davon, wie es in „Europa“ ist, als sei man selbst nicht Teil dieses Kontinents oder seiner Gemeinschaft. Dabei gibt es Möglichkeiten, zumindest einige Augenblicke des alltäglichen Glücks in der Bescheidenheit zu finden.
Die Menschen, die auf dem Land oder in ländlichen Gegenden einer Stadt wohnen, üben sich noch in dieser Bescheidenheit. Auch sie ist so wundervoll typisch für das kleine Balkanvolk. Es wird noch Obst und Gemüse selbst angebaut und Vieh gehalten. Das ist nicht „modern“, aber es hält in Bewegung und es macht satt. Brot wird selbst gebacken, das Opfertier selbst geschlachtet und zerteilt. Die Kinder werden in diesem Geiste erzogen. Sie freuen sich über Barbies und PlayStations, aber sie wissen auch, woher die Milch kommt und was eigentlich das Hähnchenschnitzel einmal war. Sie erleben die Realität des einfachen Lebens und so erfahre ich, dass ein kleines Mädchen hinter seinen Mitschülern den Müll aufhebt, weil es die Natur respektieren möchte. Es schaut sich bei der Gartenarbeit die Herbstblätter neugierig an und möchte wissen, wie und wieso sie die Farbe ändern. Und es geht in die „mekteb“.
Um ein wenig mehr über die islamische Tradition zu erfahren, ging ich an einem Samstagmorgen auch in die „mekteb“, die islamische Grundschule, die an Wochenenden stattfindet. Sie ist kostenfrei und bildet die SchülerInnen in den Grundlagen des Islams und der Qur’anrezitation aus. Ich sprach mit einem Imam, der liebevoll seine Klassen leitet, mit ihnen lacht und ihnen Wissen vermittelt. Besonders freuen sich die Kinder auf Tee und Sandwiches, die ihnen der Imam vorbereitet. Sie kommen gerne nach fünf Unterrichtstagen noch einmal in die andere Schule, um über ihren Schöpfer und ihren Glauben zu lernen. Der Unterricht verläuft zugleich in lockerer und respektvoller Atmosphäre. Auf die Frage hin, wieso der Imam eine so fröhliche Stimmung im Klassenraum fördert, antwortet er, dass in der älteren Generation oft mit Angst und sogar Prügel gelehrt wurde und dies viele dazu bewegt hat, die Schule und was sie lehrt zu verachten. Die Kinder kämen schließlich freiwillig und er wolle sie mit Spaß und Wissen binden. Er veranstaltet auch Ausflüge und organisiert besondere Ereignisse für die Kinder, um ihnen den Islam und die gemeinschaftliche Erfahrung zu versüßen.
Auch hier lernen die Kinder, mit den einfachen Dingen Glück zu erfahren. Sie gehen mit ihrem Imam in den Garten der Moschee und lassen sich anhand von Äpfeln und Vögeln und Bäumen die Schöpfung erklären. Und sie haben eine Menge Spaß dabei. Sie lernen, wieso man eigentlich zum Opferfest Fleisch an andere verteilt und bleiben auch bei der größten Versuchung – den Gummibärchen – standhaft, wenn es darum geht, welche Lebensmittel erlaubt und welche verboten sind. Sie rufen laut „pfui!“, wenn das Wort Alkohol erwähnt wird (hoffen wir, sie bleiben dabei). Oftmals wissen die Kinder durch die „mekteb“ mehr über ihre Religion, als ihre Eltern, die sie dorthin schicken. Die Eltern leben oft nicht religiös, wissen aber, dass die Kinder gut aufgehoben sind, wenn sie es besser machen, als sie selbst. Zudem ist es eine konstruktive Beschäftigung für die Kleinen, die ihnen im Leben nützlich sein wird.
Der Imam spricht mit mir auch über die religiöse Realität des Landes. Sie ist leider nur spärlich vorhanden. Die Festtraditionen werden gepflegt. Auch die, die keine einzige Sure im Leben auswendig gelernt haben, schlachten ein Opfertier und verteilen es an Verwandtschaft und Bedürftige (merhamet). Am zweiten Festtag besucht man meist die Gräber von Verwandten und der Schuhada. Die restlichen Tage werden im Kreise der Familie, Freunde und Nachbarn mit vielen herzhaften und süßen Traditionsspeisen genossen. Die alltägliche ‘Ibada fällt jedoch oft karg aus. Die Moscheen werden an Freitagen etwas voller, sowie im Ramadan. Natürlich gibt es auch Orte, an denen der Islam ganz selbstverständlich in so gut wie jedem Haus gemeinschaftlich praktiziert wird, aber in der Mehrheit scheinen leider jene zu sein, in denen es nicht so ist. Es gibt das absurde Ritual, besonders unter jungen Menschen, sich an den Festtagen in Diskotheken zu betrinken. Aus diesen Kreisen entsteht meist das Interesse an extremistischen Ideologien.
Der Imam erklärt mir, dass es oft die „Verlorenen“, die den sunnitischen Islam nie kennengelernt haben, die von einem Extrem zum anderen schreiten, seien, die sich den wahhabitischen Gemeinden anschließen. Der Einfluss dieser nehme aber inzwischen mehr und mehr ab, haben viele doch realisiert, dass man von ihnen verlangen wird, nach Syrien zu gehen. Er beschreibt auch, dass einige, so schnell sie sich diesen Gruppen angeschlossen haben, genauso schnell wieder in ihr altes Leben zurückkehrten, weil sie von der Doktrin der Sekte überrannt und überwältigt wurden. Einige finden danach auch den Weg zum sunnitischen Islam.
Es sind aber eher diejenigen, die in der islamischen Tradition aufgewachsen sind, schon zu Zeiten des Kommunismus, als es nicht populär war, gläubig zu sein, die die islamische Tradition weitertragen. Sie sind es, die sich weder durch den gesellschaftlichen Aufstieg während des Kommunismus, der das religiöse Leben ausschloss (man konnte sich nicht gleichzeitig zur Religion bekennen und in der Gesellschaft beruflich aufsteigen), noch durch die politischen Vorteile des Nationalismus während der 1990er beeindrucken ließen, und stetig ein gottgefälliges Leben suchten. Sie sind der Grund dafür, wieso beispielsweise die „mekteb“ all diese Zeiten überleben konnte. Sie war zwar nicht verboten, jedoch wahr sie zu Titos Zeiten verpönt und wird auch heute vom Staat eher misstrauisch betrachtet, da man versucht die religiöse Erziehung in der staatlichen Grundschule auf den Religionsunterricht zu reduzieren, um mehr Kontrolle zu haben.
Diese einfachen Menschen sind es, die auf eine positive Zukunft Bosniens hoffen lassen. Es sind die Leute, die jede Etappe würdevoll meistern, ohne sich allzu viel zu beklagen und ohne sich zu verirren. Der lebendige Islam, der Weg der Mitte, hat sie durch die Geschichte hinweg durch alle Prüfungen getragen. Sie arbeiten hart, selbst wenn sie keine Arbeit haben. Es findet sich immer etwas zu tun.