Infizierte Gesellschaften

Ausgabe 298

Foto: Michiel Swierts, via Wikimedia Commons | Lizenz: gemeinfrei

(bpd). Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie treffen ganze Gesellschaften, schüren kollektive Ängste und verschärfen soziale Spannungen. Das Beklagen von „Impf­muffeln“ nach Masernausbrüchen oder Schlagzeilen zu Ebola als „Gefahr für den Weltfrieden“ sind für die gesellschaftliche Tragweite von Seuchen nur zwei aktuelle Beispiele. Diese soziale Dimension macht die Seuchengeschichte relevant. Sie dient den Geistes- und Kulturwissenschaften als Seismograf des Sozialen, mit dem die Tektonik von Gesellschaften und ihre Verwerfungen sichtbar werden. An der Wahrnehmung und Bekämpfung von Seuchen lässt sich den Aushandlungen sozialer Normen, Hierarchien und Ordnungsvorstellungen im historischen Wandel nachspüren.

Für diese Spurensuche setze ich im Folgenden drei Schwerpunkte. Erstens geht es mir um den Zusammenhang zwischen Seuchen und Ausgrenzungen und damit um die Frage, wie im Umgang mit Krankheit Identität verhandelt wird. Zweitens spüre ich dem Verhältnis zwischen Seuchenvorstellungen und Raumkonzepten nach. Und drittens steht das Spannungsverhältnis zwischen Seuchen und Staatlichkeit im Fokus. Zwar bestehen zwischen den drei Schwerpunkten enge Überschneidungen. So ist die Aushandlung von Identität schwer zu trennen von Raumkonzepten, mit denen Grenzen zwischen „uns“ und den „Anderen“ gezogen werden.

Das Spannungsverhältnis zwischen Seuchen und Staatlichkeit wiederum fußt ebenso auf Selbst- und Fremdzuschreibungen wie auf Raumkonzepten, mit denen sich Staaten ihre Interventionsfelder erschließen. Der Fokus auf Identität, Raum und Staat eröffnet jedoch drei Perspektiven auf die Seuchengeschichte, die unser Verständnis für historische und gegenwärtige Gesellschaften erweitern.

Obwohl in diesen drei Perspektiven Fallbeispiele vom Mittelalter bis heute in den Blick genommen werden, stehen Entwicklungen der Neuzeit im Mittelpunkt. Schließlich treten seit dem 18. Jahrhundert Spannungsfelder zwischen Seuchen und sozialen Ordnungen hervor, die noch heute spürbar sind. In diesem Sinne verstehe ich die Seuchengeschichte als „Problemgeschichte der Gegenwart“ (Hans Günter Hockerts), deren Wurzeln sich über Jahrhunderte zurückverfolgen lassen. Rückblicke auf den Umgang mit Seuchen immunisieren uns somit auch gegen vorschnelle Erfolgs- und Liberalisierungsgeschichten der Moderne. Sie sensibilisieren uns für die Macht von Deutungen, Ängsten und Stereotypen – und für deren Folgen bis in unsere Gegenwart.

Seuchen machen Sündenböcke. Als bekanntestes Beispiel gilt nach wie vor jene Pestpandemie der 1340er Jahre, die als „Schwarzer Tod“ über die ganze Welt zog und allein in Europa zwischen 30 und 50 Prozent aller Menschenleben forderte. 1348 kam das ­Gerücht, Juden seien Brunnenvergifter und „Pestbringer“, wahrscheinlich in Frankreich oder Spanien auf. Solche Fremdzuschreibungen fielen auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil die Ausgrenzung jüdischer ­„Seuchenträger“ einen Weg aus der „Schuldenfalle“ wies.

In Deutschland (beziehungsweise im Heiligen Römischen Reich) fuhr das Gerücht reiche Ernte ein. Hier brachen während der Pestjahre um die 100 Pogrome gegen Juden aus, die vertrieben, gefoltert und getötet wurden. Der Historiker Alfred Haverkamp hat von diesen Verbrechen folglich als „schwerste Katastrophe des mitteleuropäischen Judentums vor der nationalsozialistischen ‚Endlösung‘“ gesprochen.

Selbstverständlich wurde der judenfeindliche Furor nicht erst während der Pestzüge erfunden. Die Seuche verschärfte indes soziale Spannungen und tradierte Stereotype, indem sie die Grenze sozialer Zugehörigkeit markierte und verschob. Mit solchen Ausgrenzungen war es auch in der Moderne nicht vorbei, im Gegenteil: Gerade das 19. und das 20. Jahrhundert sind voll von Fällen, in denen Seuchen zur Markierung der „Anderen“ und zur Charakterisierung von Bedrohungen dienten. Preußens König Friedrich Wilhelm III. beispielsweise nannte „die Cholera stets in einem Atemzug mit der ‚politischen Pest aus dem Westen‘“, wie er die französische Julirevolution von 1830 bezeichnete. In solchen Deutungen zog der „Sündenfall“ – gemeint war die Revolution – die Seuche als Strafe nach sich. Die Revolutionäre sahen das naturgemäß anders. Ihnen erschien vielmehr die Restauration als Seuche. So kursierte zur Niederschlagung des polnischen Aufstandes durch Russland in ganz Frankreich die Karikatur „La barbarie et le Choléra morbus entrant en europe“, in der russische Truppen mit der sensenschwingenden Cholera als Verbündete über Polen herfielen.

Die Seuche – das waren immer die „Anderen“. Dieses othering bot zeitgenössischen Ängsten eine perfekte Projektionsfläche. ­Damit dienten Seuchen der Identitätsstiftung. Schließlich machte die Ausgrenzung und Stigmatisierung des „Anderen“ im Umkehrschluss deutlich, wofür das „Eigene“ stehen sollte. Der Sozialwissenschaftler Marco Pulver hat von „Seuchenmythen“ insofern gar „als Quelle sozialer Kalibrierung“ gesprochen.

Dass auch in Deutschland Seuchenmythen in jüdischen Mitbürgern und Migranten ein beliebtes Ziel fanden, verwundert kaum. Erstaunlicher ist demgegenüber die Beobachtung, dass oft erst Fremdbilder vom „Anderen“ Seuchen zu einem gesellschaftlichen Problem machten. Der Medizinhistoriker Alfons Labisch hat in diesem Zusammenhang von „skandalisierten Krankheiten“ gesprochen. Demnach hängt das Bedrohungsgefühl für Seuchen erheblich von ihrer Kompatibilität mit sozialen Problemen ab. Eine entrüstete Meldung der „Staatsbürger-Zeitung“ vom November 1895 bietet dafür ein treffendes Beispiel: „Einem polnischen Juden haben wir es in Berlin wieder einmal zu verdanken, dass die echten Pocken nach Berlin eingeschleppt worden sind. (…) Irgendwelche Veranlassung zur allgemeinen Beunruhigung gibt das Vorkommnis nicht. Eins aber ergibt sich aus dem Geschehnis mit zwingender Notwendigkeit: strengste und rücksichtslose Maßregeln gegen den Zuzug russisch-polnisch-galizisch-ungarischer Juden in das Pestnest, das ‚Scheunenviertel‘!“ Ganz offensichtlich war in Meldungen wie diesen nicht die Seuche der Skandal. Die Pocken stellten ja überhaupt keine Bedrohung dar, wie die Zeitung selbst betonte. Zur Gefahr wurden die Pocken erst als Ausdruck zeitgenössischer Ängste. Erst die Projektionsfläche des „jüdischen, schmutzigen Migranten“ machte die Pocken zum Skandal.

Es wäre zu einfach, solche Ausgrenzungsprozesse auf ein „finsteres Mittelalter“ oder auf die Zeit vor 1945 zu reduzieren. Vielmehr hat die Forschung nachgewiesen, dass ein othering bis heute und selbst in demokratischen Gesellschaften beliebt ist. Beo­bachten ließ sich dies in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen „neuer Seuchen“. 1983 warnte das Magazin „Der Spiegel“ vor einer „Homosexuellen-Seuche“, die Europa und die USA in Angst und Schrecken versetze. Obwohl bald bekannt wurde, dass AIDS auch Heterosexuelle betraf, schürten stereotype Fremdbilder gesellschaftliche Ängste: „Als Kranke galten die sexuell oder ethnisch ‚anderen‘“. Die „Anderen“, das waren Homosexuelle, Heroinsüchtige, Prostituierte und Afrikaner. Selbst wenn nur wenige Deutsche Peter Gauweilers (CSU) drastischen Ausspruch „Mei, des sind halt Aussätzige“ unterschreiben mochten, geriet AIDS in den 1980er Jahren zu einem Lehrstück für soziale Exklusionsprozesse und für die Beharrungskraft tradierter Seuchenvorstellungen. Dass „die Krankheit (…) eine Strafe Gottes für die Homosexualität und andere Sünden“ sei, war eben nicht nur in Bayern, sondern auf der ganzen Welt denkbar.

Gauweilers Vorstellungen stießen indes auch in der Union auf Kritik. Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) forderte das Beschreiten „neuer Wege“ im Umgang mit AIDS, um einen „neuen Wertrahmen für das politische Handeln“ zu setzen. Diese Forderung war eine kleine Revolution. Für Süssmuth erschien nicht mehr die Seuche an sich als größte Bedrohung, sondern traditionelle Konzepte der Seuchenbekämpfung. Rigide Isolations- und Quarantänemaßnahmen sah Süssmuth folglich als „Bedrohung für unsere freiheitliche Lebensform und (…) Gefahr gesellschaftlicher Isolierung“.

Im Kern solcher Debatten ging es um die Frage, wer eigentlich zur deutschen Gesellschaft gehören sollte und welche Werte für diese Gesellschaft gelten sollten. Insofern ist der Umgang mit AIDS nicht zu trennen von einer gesellschaftlichen und sexuellen Liberalisierung seit den 1960er Jahren oder vom Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren, dank derer ein neuer Umgang mit „neuen Seuchen“ erprobt wurde.

Wäre das nicht ein „Happy End“ der Seuchengeschichte? War die Entwicklung vom Mittelalter bis heute also ein jahrhundertelanger Lernprozess, an dessen Ende eine ­auf- beziehungsweise abgeklärte Haltung gegenüber Seuchen steht? Mir erscheint diese ­Interpretation aus zwei Gründen zu einfach. Zum einen weckt der Umgang mit Vogel- und Schweinegrippe, SARS- oder Ebola-Ausbrüchen in den vergangenen Jahren Zweifel. Die Angst vor „neuen Seuchen“ übersetzt sich in Medien und öffentlichen Stellungnahmen nach wie vor in martialischen Kriegsmetaphern von unsichtbaren „Eindringlingen“ und „Keimträgern“, die aufgespürt und bekämpft werden müssen, wie zuletzt die Historikerin Ulrike Lindner gezeigt hat. Schon diese Metaphorik legt nahe, dass Seuchen ein Medium für Fremdzuschreibung geblieben sind.

Zum anderen sind Seuchen dank ihrer langen Deutungstradition bis heute fest im Mythenhaushalt verwurzelt. Diese Verwurzelung führt so weit, dass es mitunter gar keiner „echten“ Seuche mehr für Aushandlungen von Identität bedarf. Dass Pestmetaphern den Grundstein für Adolf Hitlers Rassenideologie legten, hat die Lektüre von „Mein Kampf“ des Germanisten Sander Gilman gezeigt. Als Seuchenträger mutierten Juden zu einer sozialen Bedrohung, die entsprechende Maßnahmen implizierte. „Das war Pestilenz“, begründete Hitler seine „Wandlung zum Antisemiten“, „geistige Pestilenz, schlimmer als der schwarze Tod von einst, mit der man da das Volk infizierte. Und in welcher Menge dabei dieses Gift erzeugt und verbreitet wurde!“

Entwicklungen seit dem 11. September 2001 legen nahe, dass Seuchenmetaphern noch heute soziale Folgen nach sich ziehen. Als „Biopolitik infizierter Körper“ interpretiert der Historiker Philipp Sarasin Konzepte der Terrorismusbekämpfung seit den Anschlägen auf das World Trade Center. Sarasin stellt nach seiner Auswertung US-amerikanischer Presseberichte eine ebenso ungebrochene wie unheilvolle Attraktivität von Seuchenmetaphern fest. Diese entbehrten zwar jeder epidemiologischen Grundlage. Sie befördern indes Fremdzuschreibungen, mit denen sich letztlich sogar Folter und Kriege begründen lassen: „Der ‚Terrorist‘ ist die Ikone schlechthin jenes ‚unsichtbaren Feindes‘, der von außen in unsere Körper eindringt, um so von innen her zu zerstören. Eine fremde Spezies, die mit antibakteriellen Mitteln bekämpft werden muß.“

Dieser Text wurde erstmals am 06. Mai 2015 im Rahmen einer CC BY-NC-ND 3.0 DE-Lizenz auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) veröffentlicht.